- Politik
- 50 Jahre unabhängiges Indien: Die Parias als Bestsellerthema
»Kinder Gottes«, die Unberührbaren
Es gibt nicht viele Worte, die wir aus einer der vielen Sprachen des indischen Subkontinents ins Deutsche übernommen hätten - abgesehen davon, daß viele indoeuropäische Sprachen ihre Wurzel im Sanskrit haben. Aber eines ist vielen geläufig: »Paria«. Es kommt aus dem Tamil, einer südindischen Sprache, und lautet in seiner ursprünglichen Form »paraiyan«. Bis heute steht es in der starren hinduistischen Sozialhierarchie für Angehörige niedriger Kasten oder Kastenlose, die als »unrein«, als »unberührbar« gelten.
Die Integration der Parias in die indische Gesellschaft trieb frühzeitig auch den indischen Unabhängigkeitsvorkämpfer Mahatma Gandhi um. »Wie können wir mit gutem Gewissen unsere Unterdrücker verurteilen, wenn wir unsere eigenen Brüder unterdrücken?«, fragte er Anfang der 30er Jahre. Dann schritt er zu Maßnahmen, die man Jahrzehnte später in den USA »affirmative action« oder hierzulande »positive Diskriminierung« nennen würde. Er verlieh den Parias die
symbolische Bezeichnung »Harijans« -»Kinder Gottes« -, um sie im Bewußtsein aller Inder zu gleichwertigen Menschen zu machen, und zwang die Führer der Unabhängigkeitsbewegung mit einem seiner berühmten Todesfasten, einem Pakt über ihre rechtliche Gleichstellung zuzustimmen.
Aber auf viel Verständnis stieß die »Große Seele« nicht, als er sich von der scheinbar alles übergreifenden nationalen Frage dieser speziellen sozialen zuwandte. Selbst sein Schüler Jawaharlal Nehru, später erster Premierminister des unabhängigen Indien, schrieb daraufhin: »Das Band der Treue, das mich viele Jahre an ihn gebunden hat, ist zerrissen.«
Seit wenigen Wochen ist ein solcher Unberührbarer, K. R. Narayanan, Präsident Indiens, des Landes, das in der Mitte der nächsten Jahrhunderts mehr Einwohner als China haben wird und dem so mancher Beobachter eine wirtschaftliche Zukunft wie die der südostasiatischen Tigerstaaten prophezeit. Kein Geringerer als Salman Rushdie wertete diese Tatsache in einem Beitrag zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit seines Herkunftslandes als ein positives Zeichen dafür, daß die »Idee Indien«, die er in
seinem vorigen Roman »Des Mauren letzter Seufzer« in Explosionen untergehen sieht, doch noch Wirklichkeit werden könnte.
Doch wieviel nutzt ein »Unberührbarer« an der Spitze des Landes zu dessen goldenem Jubiläum, wenn für »zwei Drittel der Bevölkerung ... die Feierlichkeiten ohne Bedeutung bleiben«, da sie »auch am 15.8. daran arbei(te)ten, den Tag zu überleben«, wie Asit Datta und Gregor Wojtasik in einem Beitrag für die Zeitschrift »epd-Entwicklungspolitik« anmerkten. Dazu, davon kann man ausgehen, gehörten auch viele von Gandhis Kindern Gottes, wahrscheinlich sogar weit mehr als zwei Drittel von ihnen. Auch heute noch würden viele Millionen seiner Landsleute kein Stück Brot aus den Händen ihres obersten Repräsentanten annehmen.
Im südindischen Staat Kerala, schon* aus Rushdies »Mohren« als literarischer Ort bekannt, wird eine der Harijan-Untergruppen »Paravan« genannt. Zu ihr gehört der Schreiner Velutha, der Held des Romans »Der Gott der kleinen Dinge« von Arundhati Roy, der jüngst sogar die Gnade der Aufnahme ins Literarische Quartett fand, im englischen Sprachraum
längst ein Bestseller und in insgesamt 18 Ländern erschienen ist.
Velutha sollte eigentlich kein Schreiner sein, das erlaubt ihm die Kastenordnung nicht. Den Zwillingen Estha und Rahel, aus deren Sicht wir die Geschichte Veluthas sowie ihrer Mutter Ammu erfahren, hatte die Großmutter, Mammachi, von der Zeit erzählt, als die Paravan nicht nur nichts berühren durften, was Berührbare berührten, sondern »mit einem Besen in der Hand rückwärts kriechen und ihre Spuren verwischen mußten, damit Brahmanen und syrische Christen« zu denen ihre Familie gehörte - »nicht zufällig auf den Fußabdruck eines Paravans traten und sich verunreinigten. Zu Mammachis Zeiten war es Paravans und anderen Unberührbaren nicht gestattet gewesen, auf öffentlichen Straßen zu gehen, ihren Oberkörper zu bedecken, Regenschirme zu tragen. Wenn sie etwas sagten, mußten sie die Hand vor den Mund halten, damit ihr unreiner Atem nicht diejenigen traf, mit denen sie sprachen.« Aber Velutha, der schon nicht hatte Schreiner werden sollen, verliebt sich ausgerechnet in Ammu, was auf Beiderseitigkeit beruht. Und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.
Daß es sich dabei nicht um einen Einzelfall handelt, zeigt der Roman eines anderen Inders, des seit 1975 in Kanada lebenden Rohinton Mistry »A Fine Balance« erschien bereits vor zwei Jahren bei Faber and Faber in London und ist noch nicht auf deutsch erhältlich. Während Roys Roman mit beißendem Spott zeigt, daß auch die indischen Marxisten nicht gegen die jahrtausendealten Kastenschranken ankommen können (und wollen) - in Kerala wurden 1957 und
1967 jeweils kommunistische Regierungen gewählt -, rechnet Mistry gnadenlos mit dem Ausnahmezustandsregime der Nehru-Tochter Indira Gandhi ab. Die hatte Mitte der 70er Jahre rücksichtslos versucht, ihr auf Bevölkerungskontrolle, auch mit Hilfe massenweiser Zwangsterilisationen, basierendes Entwicklungsmodell durchzupeitschen und ihren ehemaligen Wahlslogan »Fort mit der Armut!« durch Verwüstung von Slums und die »Säuberung« der Städte umzusetzen. Roys und Mistrys Romane zeigen nur eine Facette des Kontinents Indien. Aber spätestens mit ihnen hat das Thema der »Parias« in der großen Literatur Fuß gefaßt.
Nehru trug als Zeichen der Unabhängigkeit stets eine Rose am Revers. Diese Blüten sind längst verwelkt, so wie Gandhis Traum von der Brüderlichkeit zwischen Kastenhindus und Harijans. Der Geruch verblühter Rosen im Wind steht bei Arundhati Roy deshalb für den Odem der Geschichte, der Estha und Rahel durch ihre Kindheit begleitet.
50 Jahre freies Indien sind auch 50 weitere Jahre der Unterdrückung der Parias. Sie selbst nennen sich heute »Dalit«, »Unterdrückte«. Das beschönigt nicht wie Gandhis Wort, sondern benennt deutlich ein soziales Verhältnis. Und deutet auf gewachsenes Selbstbewußtsein. Auch ein gutes Zeichen, Salman Rushdie.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.