Das Wetter in Deutschland heute
Wegstecken! von POLLY
Haste mal. «, drängte sich ein alkoholisierter Hundebesitzer beim Einparken des Einkaufskorbes an mich heran. Ich griff reflexartig in die Westentasche und drückte ihm meine Visitenkarte in die Hand. »Könnten Sie mir bitte. «, flehte angesichts zweier Kohleeimer die ältere Dame von nebenan. Auch sie wurde mit einem Visitenkärtchen beglückt.
Der Grad unserer Zivilisiertheit drückt sich auch darin aus, daß wir uns zum Zwecke gegenseitiger Erkenntnis nicht mehr bunte Streifen über Jochbein und Braue schmieren, sondern den gesitteten Austausch bunt bedruckter Kartonagenrechtecke pflegen. Besonderer Einfallsreichtum, lernte ich kürzlich, manifestiert sich in hochkant bedruckten Karten.
Just begannen wir in unserer WG, mit auf den Schmalseiten beschriebenen Karten zu experimentieren, da teilte uns die SPD mit, daß wir mit Papier nie im nächsten Jahrtausend an-
kommen werden. »Die Zeit der Broschüren ist vorbei«, tönt der sachsen-anhaltinische Ableger des Inbegriffs innovativen Denkens und präsentierte - eine CD-ROM. Um die nach eigenen Erhebungen 2000 an der SPD interessierten jungen Noch-nicht-Mitglieder zu überzeugen, genügten nicht allein »jugendliche Themen«, nein, es müßten auch »Medien von heute und die Sprache der Jugend« her Also beschenkt man die jungen Menschen mit silbernen Visitenkarten unter dem peppigen Titel »Anecken statt wegstecken -Nur wer sich einmischt, kann
verändern!« - Zugegeben: Vierseitige Faltblätter sind nicht gerade das Solarauto unter den Werbemitteln. Aber lesbar sind sie. Dagegen darf man vermuten, daß CD-ROM-Laufwerke zwischen Genthin und Wolfen bislang nur in kleinen Populationen auftreten und der modernen, aber unlesbaren Visitenkarte blüht, was sie im Titel noch verneint. Wegstecken!
Dabeisein ist alles, lautet das olympische Motto. Aber nicht um jeden Preis, stöhnten die Genossen schon einmal, als sich Oskar zu Technorhythmen wiegte. Kannste wegstecken.
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