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  • Kultur
  • DIE LETZTEN GEDANKEN UND PROPHEZEIUNGEN DES JÜRGEN KUCZYNSKI

Im Jahr 2046 ist es wieder soweit!

  • Günter Wermusch
  • Lesedauer: 4 Min.

Hand über ihn hielt. Interessiert, mitweilen erstaunt vernimmt man schier unglaubliche Geschichten. Vielleicht, räumt Kuczynski an einer Stelle des Dialogs ein, haben manche Szenen und Dinge ganz anders oder gar nicht stattgefunden: Das Gedächtnis sei eben »so ein Problem«, und Tagebuch habe

er nur bis 1926 geführt...

Es sind die Erinnerungen eines Anpassers und Oppositionellen zugleich, nicht die eines Rebellen. »Sollte ich Schluß machen mit meiner öffentlich oppositionellen Haltung und Wirkung innerhalb der Partei, Schluß mit der Hilfe für Genossen, wenn ich in Gnade war, oder aber

Jürgen Kuczynski: Was wird aus unserer Welt? Betrachtungen eines Wirtschaftswissenschaftlers. Schwarzkopf,& Schwarzkopf, Berlin 1997. 64 S., br., 9,80 DM. Jürgen Kuczynski: Freunde und gute Bekannte. Gespräche mit Thomas Grimm. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin

1997. 247 S., 24.80DM.

dafür ein kleiner Held sein?«, fragt Jürgen Kuczynski; Daher verurteilt er auch nicht Anna Seghers, die in dem Schauprozeß gegen Walter Janka und Wolfgang Harich 1957 als Entlastungszeugin hätte auftreten können, es aber nicht tat. In jenem Jahr stimmte Kuczynski für den Ausschluß des großen Philosophen Ernst Bloch aus der Akademie der Wissenschaften: »Wie sich jedoch nachher zeigte, zu Unrecht.« Gerade in jener »Tauwetterzeit«, nach der Chrustschowschen Enthüllung des Stalin-Terrors, fielen in der DDR renommierte marxistische Wissenschaftler reihenweise in Ungnade. Kuczynski führt Namen an: den Rechtsphilosophen Hermann Kienner, den Politökonomen Fritz

Behrens, den Literaturwissenschaftler Hans Mayer...

Zu den etwas befremdlich wirkeijdßn, Äußerungen Kuczynskis gehört jene, er habe bis 1989“»die absolute Illusion zunächst über die Linie der KPD und dann über das System der DDR« gehabt und erst in jenem Jahr begriffen, »was eine Diktatur des Proletariats im Gegensatz zur Diktatur des Politbüros ist«. Ist das vorstellbar bei einem Mann, der nach eigener Aussage wegen seiner Ansichten ebensoviele Parteistrafen wie Auszeichnungen erhielt? Der 1987 von seiner Partei gemaßregelt wurde, weil er in einem Interview mit der Hamburger Zeitschrift »konkret« das ZK wegen seiner Abstimmungsmaschinerie kritisiert hatte? Und sollte er, der Experte, wirklich nicht spätestens seit den 70er Jahren erkannt haben, wie krank das Wirtschaftssystem im »realsozialistischen Lager« war? So jedenfalls bekundet er es in seinem letzten, noch zu Lebtagen erschienenem Buch mit dem Titel »Was wird aus unserer Welt?« Mahnungen, Warnungen, Analysen hatten doch schon seit den 60er Jahren Wissenschaftler wie z.B. der 1968 gedemütigte Günther Kohl-

mey vorgetragen, den Kuczynski beiläufig erwähnt. Ich erinnere mich auch an die Begegnung mit einem »ausgeflippten« Schüler Kuczynskis 1983, dem der »ganze Zirkus«, der Selbstbetrug im Realsozialismus nicht mehr paßte und der da lieber vom Verkauf selbstgebastelter Lampenschirme auf dem Berliner Ostbahnhof lebte.

Der Interviewer Grimm bohrt nicht nach. Ob, im Falle, er hätte es getan, bzw. bei

saisten unseres Jahrhunderts«. Als Hermlin im April 1997 starb, »erkannte ich, wieviel größer der Kreis derer ist, die ich nichf überleben möchte ... Am Ende war Stephan alt und schwach und müde und krank«. J.K. war es nach dem Ableben seines elf Jahre jüngeren Freundes wohl nun auch. “? * “Dennoch,-bis zuletzthat-er fvem i k seiner prophetischen “Neigung nfcH^ lassen Können. »Was wird aus unserer Welt?« legt davon Zeugnis ab. Was er da vorbringt, gestützt auf sein Hauptwerk, die 40bändige »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«, ist schon nachdenkenswert. Er analysiert noch einmal in aller Kürze den Weg des Kapitalismus von seinen eigentlichen Anfängen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bis in die heutige Zeit, die vom »Siegeszug der Barbarei« gekennzeichnet sei. Und dann zaubert J.K. ein letztes Mal eine Prognose aus dem Hut: Im Deutschland des Jahres 2046 werden »sich die ersten Anfänge einer sozialistischen Gesellschaft andeuten«. Wie es dazu innerhalb des nächsten halben Jahrhunderts kommen wird, verschweigt er. Dennoch sei ihm für diese Weissagung gedankt, die uns Niedergeschlagenen, Kapitulierenden und zynisch Gewordenen ein Fünkchen Hoffnung gibt. Vielleicht ist es 2046 wirklich wieder soweit? Für einen neuen Anlauf zum Sozialismus.

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