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  • Politik
  • Zwei Pioniere des Films haben Geburtstag: Ousmane Sembene und Jean-Marie Sträub

Fern vom Illusionskino

  • Martin Mund
  • Lesedauer: 3 Min.

Außer dem gemeinsamen Geburtsdatum scheint, auf den ersten Blick, den senegalesischen Regisseur Ousmane Sembene und den französischen Cineasten Jean-Marie Sträub nichts miteinander zu verbinden. Oder doch? Immerhin gehören beide zu jenen Avantgardisten des Kinos, ohne die der Film in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in den seichten Fahrwassern der Traumfabrikation gestrandet wäre.

Ousmane Sembene, 1923 als Sohn eines Fischers geboren, war Schlosser, Maurer, Soldat der französischen Kolonialtruppen im Zweiten Weltkrieg, dann illegaler Einwanderer in Frankreich, Arbeiter bei Citroen, Docker im Hafen von Marseille. Mitte der 50er Jahre, inzwischen Mitglied der CGT und der KPF, schrieb er seinen ersten Roman. Aus dem Wissen heraus, daß seine Landsleute in der Mehrzahl Analphabeten sind und er sie zwar nie durch Bücher, wohl aber durch Filme erreichen würde, bewarb er sich als knapp 40jähriger um die Aufnahme an einer Filmhochschule: »Wenn man niemals zu alt ist, um Dummheiten zu machen, dann ist man erst recht nicht zu alt, um etwas zu lernen!« So studierte

er in Moskau, bei Sergej Gerassimow und Mark Donskoi.

Ousmane Sembene hat mit seiner Kunst das Selbstbewußtsein des schwarzen Afrikas und der »gewöhnlichen Leute« zu stärken versucht; er verstand sich immer als Aufklärer und Erzieher, als moderner Volkserzähler- »Ohr und Mund der Massen«. »Die Postanweisung« (1968) wurde sein erster internationaler Erfolg: eine Groteske über Bürokratie und kleinbürgerliches Erdulden eines absurden Schicksals. »Gott des Donners« (1972) schilderte den Widerstand eines senegalesischen Dorfes gegen die französische Besatzerarmee. Die Satire »Xala« (1975) machte sich über die neureiche afrikanische Bourgeoisie lustig, die - als symbolische Strafe - unter Impotenz leidet. »Ceddo« (1977), eine grandiose historische Parabel, beschreibt das gewaltsame Vordringen des Islam in Afrika. Und »Guelwaar« (1992) ist eine Skizze des heutigen Senegal mit all seinen Problemen: Kampf der Religionen, fatalistisches Vertrauen auf Entwicklungshilfe, Korruption, Armut, Kindersterblichkeit, Aids ... Das bittere Fazit eines Moralisten.

Auch die Filme von Jean-Marie Sträub, der sich selbst als »Franzose im Exil« bezeichnet, sind nicht frei von Bitternis. Der seit 1969 vorwiegend in Italien le-

bende und in Deutschland arbeitende Regisseur hat sich in einer ganzen Reihe von Werken mit der Unfähigkeit der Menschen befaßt, sich zu freien Individuen zu emanzipieren; seine kühlen, glasklar strukturierten Analysen zeigen, wie gesellschaftliche Zwänge, politische Mechanismen eine Emanzipation des einzelnen verhindern. Schon mit den ersten beiden Arbeiten, den sarkastischen Böll-Verfilmungen »Machorka-Muff« (1962) und »Nicht versöhnt« (1965) über den lebendigen faschistischen Geist in der Bundesrepublik, traten Sträub und seine Frau Daniele Huillet gegen das Illusionskino an. Zu ihren Markenzeichen wurden lange Einstellungen, deklamatorische Monologe, Laiendarsteller - ein Kino der Askese. Sie adaptierten Corneille (»Othon«), Kafka (»Klassenverhältnisse«), Hölderlin (»Der Tod des Empedokles«). In »Geschichtsunterricht« (1972) nach Bertolt Brechts »Geschäfte des Herrn Julius Cäsar« reflektierten sie, vier Jahre nach den Studentenunruhen, über Politik und Geschäft, den Kern des Imperialismus.

Und immer wieder kehrten Sträub/ Huillet zu Arnold Schönberg zurück, brachten dessen Opern »Moses und Aron« (1974) und jetzt »Von heute auf morgen« (1997) auf die Leinwand. Dabei kooperierten sie mit dem Dirigenten Michael Gielen, der einen emphatischen Satz über das Wesen der Straubschen Filmarbeit zu Protokoll gab: »Ich liebe diese Leute! Die haben Charakter, sind unbestechlich in ihrem Widerstand gegen die Industrie, gegen die Lüge.« Ohne Sträub wäre das deutsche Kino um eine wichtige Facette ärmer

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