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und Zukunftsangst

Subjektives Resümee eines ersten Semesters Von Manja Finnberg

  • Lesedauer: 4 Min.

Foto: Kluge/dpa

Eine von 23 000 Leipziger Studis vor dem Irrgarten des Uni-Infobretts

Erstsemester

Manja Finnberg (19) hat gerade ihr erstes Semester an der Uni Leipzig abgeschlossen: Germanistik, Politik, Psychologie.

Foto: privat

Wider Erwarten die Klausuren überstanden, die Sachen gepackt, das Grünzeug in Pflege gegeben. Kurz: Ich bin bereit, meine ersten Semesterferien anzutreten. Irgendwann im Lernstreß der letzten Tage tauchte etwas eher Unpassendes in meinem überlasteten Geist auf: Was hast du eigentlich in den letzten fünf Monaten durchlebt? Spontane Antwort: Genug.

Ich resümierte. Mein erstes Semester an einer deutschen Universität ist also vollendet. Zu Anfang widerstand ich der Versuchung, am schier unübersehbaren System »Universität« zu verzweifeln. Ich lernte, für jeden amtlichen Gang zum Studentenwerk und ähnliche bürokratische Anhängsel der Uni mindestens drei Anläufe einzuplanen. Nunmehr beherrsche ich es perfekt, mich von unfreundlichen Sekretärinnen unbeeindruckt zu zeigen und den Professor in der einen Stunde pro Woche, in der er Studenten sein Ohr leiht, abzufangen.

Ich kann seitenlange Formulare ausfüllen und mit einem Buch der Lektüreliste sinnvoll jede der Wartestunden in Ämtern nutzen. Damit habe ich bereits eine der hochgelobten Schlüsselqualifikationen für das »richtige« Leben erworben. Tapferkeit im Kampf mit der Bürokratie. Weitere neue Tugend: Organisationstalent. Zu dieser verhalfen mir drei sich völlig überschneidende Vorlesungsverzeichnisse, die es in einem Stundenplan zu koordinieren galt. Letztlich wurde dieser sowieso viel zu voll. Aber ich habe mir sagen lassen, daß sich das mit weiteren Semestern naturgemäß reduziert.

Reduziert haben sich auch noch ganz andere Dinge. Zum Beispiel die anfängliche Ausgehwütigkeit, die mit jeder halbdurchschlafenen Vorlesung nachließ. Und die Euphorie ist weniger geworden. Darüber, wie viele Menschen man nun kennt, die ja alle so nett sind. Mittlerweile nämlich besieht man sie sich genauer und muß vorher Verborgenes entdecken. Was heißen soll: Bisher ganz interessante und sympathische Bekanntschaften entpuppen sich als nervige Zeitgenossen, denen man lieber künftig entflieht.

Bei allem hatte ich aber auch Glück. Indem ich zwar in einem etwas sterilen Wohnheim hause, dieses jedoch feierwütig und vor allem multikulturell ist. Oder indem ich eine der vielleicht verträglichsten Mitbewohnerinnen beschert

bekam. -Oder weil ich eine wirkliche Freundin fand.

Wenn das bis jetzt lediglich die äußeren Begleitumstände meiner neuen Lebenssituation waren, so fehlt doch eigentlich das Essentielle. Mein Studium selbst. Es ist mir vergönnt, die Dinge zu studieren, denen meine Leidenschaft gilt. Das ist Glück. Man könnte das auch anders betrachten. Ich studiere mit Zielrichtung auf den vielgerühmten Taxifahrer mit akademischen Abschluß. Das ist Wahnsinn oder Dummheit oder Idealismus. Wie man es eben sehen möchte. Auf jeden Fall hat diese Tatsache von Anfang an etwas sehr Belastendes zu meinem ständigen Begleiter gemacht: Zukunftsangst. Man könnte daraus Motiva-

tion schöpfen, doch wie lehrt mein Psychologie-Prof? Angst ist ein schlechter, unzuverlässiger Antrieb. Man läuft jederzeit Gefahr, in lähmende Starre zu verfallen.

Ich studiere in einer der »aufstrebenden Oststädte«. Leipzig ist im Begriff, eine westliche Maske überzustreifen, doch an jeder Connewitzer Ecke, in jeder Straße mit wunderschönen, völlig verwahrlosten Altbauten spürt man den Osten ohne Retusche. Man braucht allein in einen der vielen winzigen Obst- und Milchläden zu treten, einmal mit meiner rumpelnden Straßenbahnlinie 5 zu fahren und hat für einen Augenblick das Gefühl, zehn Jahre zurückversetzt zu sein. Vielleicht ist das neben den (noch) relativ billigen Studienkosten der Grund dafür, daß ich auf unerwartet zahlreiche Kommilitonen aus dem westlichen Teil Deutschlands gestoßen bin. Manche scheint das Abenteuer Osten zu locken, manche kommen aus echtem Interesse. Fast alle suchen hier etwas. Profil hinter gelackter und geleckter Glätte, Ahnung von etwas, das anders gewesen sein muß als die heutige Lebenskunst, Lebenskünstlichkeit. Und weil diese so erdrückend dominant ist, bin ich im Grunde in diesen ersten vorlesungsfreien Tagen viel weniger in meinen Gedanken mit meinem Studium beschäftigt. Ich hadere vielmehr mit dem, was sich da vor mir als Lebensperspektive auftut, mit der Gesellschaft, wie sie mich umgibt.

Ein Gefühl gibt es noch, das ich unerwähnt ließ. Ich bin richtig stolz, das erste Semester studiert zu haben. Vielleicht, weil ich Mitte April nicht wieder ahnungslos und desorientiert meinen ersten Schritt in die heiigen Hallen des Wissens tun werde, sondern andere dabei beobachte.

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