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  • Politik
  • Vor 65 Jahren: Ernst Thälmanns Verhaftung und der »Fall Kattner«

Fememord in der Husarenstraße?

  • Ronald Sassning
  • Lesedauer: 6 Min.

Als am Nachmittag des 3. März 1933 Ernst Thälmann und seine engsten Mitarbeiter Werner Hirsch, Erich Birkenhauer und Alfred Kattner von der Polizei verhaftet werden, spricht Hans Kippenberger, Leiter des Militärpolitischen Apparates der KPD, von einer »Katastrophe und Schande vor der ganzen Internationale«. Wie konnte das geschehen? Warum wurde der KPD-Vorsitzende nicht besser geschützt?

Aber da sind eben auch andere Fragen, u.a. die nach dem Schicksal der Thälmann-Vertrauten Birkenhauer und Hirsch. 1934 aus faschistischer Haft entlassen, emigrierten sie in die Sowjetunion, wo sie Opfer des Stalinschen Terrors wurden. Hirsch wurde im Butyrskaja-Gefängnis im Juni 1941 und Birkenhauer in einem Wald bei Orel im Herbst 1941 von einem NKWD-Exekutionskommando erschossen. Und der »Dritte im Bunde«? Was geschah mit Alfred Kattner?

Noch immer hält sich die Legende, daß er Thälmann verraten habe. Dem ist nicht so, aber was vollzog sich in Wirklichkeit? Die Tochter Alfred Kattners, Anita, kann sich noch heute ganz genau an jenen für sie schrecklichen 1. Februar 1934 erinnern. In den frühen Morgenstunden platzte plötzlich ein fremder Mann in das Zimmer, das die Familie Kattner bei der Witwe Bork in der Husarenstraße 5 in Nowawes (heute Babelsberg) zur Untermiete bezogen hatte. Alles ging blitzschnell. Der schlafende Vater wird mit mehreren Pistolenschüssen getötet. Mutter Hedwig schreit um Hilfe. Der Fremde entflieht, verliert dabei seinen Hut mit den Initialen »Max E«.

Warum wurde Alfred Kattner,' 37 Jähre alt, umgebracht? Und von wem?

Kattner hatte eine Vertrauensstellung in der KPD-Parteizentrale und beim Vorsitzenden als eine Art technischer Sekretär inne gehabt. Aber seinen Namen fin-

det man in der DDR-Thälmannbiographie nicht.

Entsprechend einem Auftrag Herbert Wehners, die Umstände des Desasters der Verhaftung Thälmanns aufzuklären, hatte sich der Verdacht des Militärpolitischen Apparates der KPD gegen Kattner gerichtet (s. auch: »Der Nachrichtendienst der KPD 1919-37«, Dietz Berlin). Dieser war am 15 November 1933 aus dem KZ Sonnenburg entlassen worden. Der Verdacht gegen Kattner verstärkte sich mit weiteren Verhaftungen, insbesondere von John Schehr, dem operativen Nachfolger Thälmanns, im November 1933. Die KPD-Führung befürchtete zudem, daß dieses »versumpfte Element« Kattner in'dem von den Nazis geplanten Schauprozeß gegen Ernst Thälmann als Belastungszeuge auftreten könnte. So wurde der Entschluß zu dessen »Ausschaltung« gefaßt. Zunächst versuchte man, ihn nach Prag zu beordern bzw

Alfred Kattner

und seine Frau Hedwig mit Tochter Anita

Fotos: Privat

zur Emigration in die Sowjetunion zu bewegen. Es folgte die steckbriefartige Enttarnung Kattners als Gestapoprovokateur auf Flugblättern - zur Warnung der Genossen. Schließlich nahm der Plan zur Tötung Kattners Gestalt an. Dieser wurde von Rudolf Schwarz (»Horst«) geschmiedet, dem Leiter des Abwehrressorts der KPD. Als Instrukteur fungierte dessen Mitarbeiter Kurt Gramzow (»Eugen«). Sein Gehilfe Hans Schwarz (»Otto«) übernahm die Ausführung der Tat. Zu den Vorbereitungen gehörte die Erkundung der Ortsgegebenheiten und täglichen Lebensgewohnheiten des Opfers, die Ausrüstung des Täters mit zwei Mauserpistolen, Ersatzmagazinen und weiteren 20

Schuß Munition. Aus dem ursprünglich gedachten Dreier-Kommando wurde schließlich eine Ein-Mann-Operation.

Als es der Gestapo im Dezember 1933/Januar 1934 sogar gelang, in die Leitung des Militärpolitischen Apparates einzudringen, weitere Verhaftungen stattfanden und nun auch »Horst« ausfiel, entschloß man sich endgültig zur Tat.

Danach wurde Hans Schwarz mehrere Tage in Berlin versteckt und dann am 10. Februar 1934 mit einem Auto in die CSR gebracht.

Alfred Kattner war zum Verhängnis geworden, daß er bei seiner Festnahme wichtige militärpolitische Informationsmaterialien über die Gegenseite sowie über illegale Vorkehrungen der KPD zur Information Thälmanns bei sich trug. Die besorgte Anfrage Thälmanns in einem Gefängniskassiber über mögliche Konsequenzen aus der Verhaftung »Tischlers« (Beruf Kattners), kann allerdings nicht zum Trugschluß führen, daß der KPD-Vorsitzende selbst die Ermordung angeordnet habe, wie dies Thilo Gabelmann in seinem unseriösen, reißerisch aufgemachten Buch »Thälmann ist niemals gefallen« suggeriert.

Kattner ist »umgefallen«. Schwieg er anfänglich noch tapfer, so ließ er sich schließlich nach weiteren »Vernehmungen« durch die Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin zum Spitzeldienst -zwingen. Seiner Familie, wie mir Tochter Anita berichtete, blieben seine Gestapokontakte nicht verborgen, aber auch nicht der innere Zwiespalt und die Zwänge, in die er sich damit begeben hatte. Der Familie erklärte Kattner seine überraschende Freilassung damit, daß er in einem Prozeß aussagen solle: Auch wolle er sie vor der angedrohten Sippenhaft bewahren. Er bemerkte das Mißtrauen seiner ehemaligen Genossen. Sogar ein JMeffe jvarnte ihn: »Onkel Alfred, unter “uns Ist ein Verräter“, *ühd wir glaub enT daß du es bist!« Auf einer Karte von Ende Januar 1934 hieß es: »Arbeiterverräter Für Dich ist kein Platz mehr!«

Kurt Gramzow und Hans Schwarz leisteten noch viele Jahre antifaschistische Abwehrarbeit, bevor auch sie in die Hände der Nazis fielen. Gramzow wurde am 10. September 1943 in den »Plötzenseer Blutnächten« hingerichtet, Schwarz Anfang 1944 in der Slowakei zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein fast 40 Seiten umfassendes »Aussageprotokoll« von Hans Schwarz aus dem Jahr 1942 enthält die Formulierung, daß er seine Tat in Nowawes 1934 bedauere. »Eugen« sah sie weiterhin als unbedingt notwendig an.

In der militärpolitischen Schule der Komintern in Moskau löste der »Fall Kattner« kontroverse Diskussionen darüber aus, »ob individueller Terror gegenüber dem faschistischen Terror zweckmäßig sei«. In einem Flugblatt des KJVD Berlin-Schöneberg von Mitte Februar 1934 hieß es, daß individueller Terror die revolutionäre Arbeit nicht ersetzen könne, das »Parteigericht« jedoch vor »ähnlichen Lumpen wie Kattner« schützen müsse. Bereits Anfang 1934 enthüllte die »Rote Fahne« Umstände und Auswirkungen des »Falls Kattner«.

Alfred Kattner hat Verrat begangen, doch kann ihm lediglich ein Teil der verlustreichen Gestapozugriffe von 1933/34 angelastet werden, darunter sicher einige schwerwiegende wie die Verhaftung John Schehrs und anderer KPD-Funktionäre der illegalen Landesleitung sowie des Militärpolitischen Apparates. Kurz nach Kattners Ermordung erschoß die Gestapo John Schehr, Eugen Schönhaar, Rudolf Schwarz (»Horst«) und Erich Steinmrth - »auf der Flucht«, wie es hieß.

Abtrünniger Gestapospitzel oder tragisches Fememordopfer? Wie sollte man Kattner bezeichnen?

Jegliche Vereinfachung wird den au-ßergewöhnlichen Zeitumständen nicht gerecht. Kattner hatte, bevor er der Gestapo in die Hände geriet, Verdienstvolles geleistet bei der Organisierung des antifaschistischen Widerstandes. Wie die Praxis zeigte, blieben die Maßnahmen zur Spitzelbekämpfung ziemlich wirkungslos, auch das drakonische Abschreckungsexempel gegen Kattner, der als Sündenbock herhalten mußte, um auch von Unzulänglichkeiten in der KPD-Abwehr und von anderen Überläufern abzulenken. Um nicht noch weitere Genossen und Antifaschisten zu gefährden, wäre es besser gewesen, die illegale Konspiration zu verbessern. Der .Auftragsmord an Kattner blieb eine Ausnahme in der Geschichte der illegalen KPD.

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