»Hier wars. Ach, ist das schön!«
Der Heimkehrer - eine Reise in die Vergangenheit Mit Wolfgang Leonhard auf den Spuren der »Gruppe Ulbricht«
Es fröstelt einen. Nicht ob der Worte von Wolfgang Leonhard über die »Zwangsvereinigung«. Es ist eisig-kalt im Admiralspalast. Das Haus an der Berliner Friedrichstraße, in dem sich am 21./22. April 1946 KPD und SPD vereinten, steht seit über zehn Jahren leer. Die einstige Spielstätte des Metropol-Theaters wird rekonstruiert, soll wieder im Glanz der »Goldenen Zwanziger« erstrahlen, wie Falk Walter von der Admiralspalast GmbH erklärt. Seine Vision vermag nicht zu erwärmen; alle sind froh, nach seiner und Leonhards Rede in der Frühlingssonne wieder auftauen zu dürfen.
Der Admiralspalast ist eine der letzten Stationen der Zeitreise auf den Spuren der »Gruppe Ulbricht«, zu der die Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur Presse, Funk und Fernsehen geladen hat. Star der Rückkehr in die Vergangenheit ist Wolfgang Leonhard. Er gehörte zu jenen zehn Mannen, die am 30. April vor 60 Jahren aus Moskau im schon besiegten, aber noch nicht kapitulierenden Deutschland eintrafen, um den demokratischen Neuanfang zu wagen.
Erste Station ist Bruchmühle, das heute zur Gemeinde Altlandsberg gehört und der »Gruppe Ulbricht« erstes Domizil bot. Bürgermeister Andruleit freut sich über die journalistische Aufmerksamkeit und informiert im Gebäude des örtlichen Sportvereins darüber, dass sein nach der deutschen Vereinigung arg geschrumpfter Kreis nun wieder von 800 auf 1600 Köpfe angewachsen sei, einen Kindergarten, eine Feuerwehr und eine rege Sportgemeinschaft habe. Die Vitrinen im Vereinssaal sind gefüllt mit diversen Pokalen - Kulisse für Leonhards ersten Auftritt.
Er berichtet zunächst über seine Tätigkeit in Moskau für den Sender des Nationalkomitees »Freies Deutschland«, auch »Institution Nr. 99« genannt, denn unter Stalin habe es für alle und alles Decknamen gegeben. Am 27. April 1945 habe er einen Anruf erhalten, er möge sofort ins Hotel »Lux« kommen. Dort habe ihn Walter Ulbricht erwartet: »Ist ja schön, dass du da bist. Hier bist du bei der "Gruppe Ulbricht". Wir fahren nach Deutschland.« Mehr habe er nicht verraten. Und »es wurde auch nicht gefragt«, sagt Leonhard. Am 29. April gab es eine kleine Abschiedsfeier bei Wilhelm Pieck, mit »sto gramm« Wodka. Prost: »Auf eure zukünftige Arbeit in Deutschland.« Sodann habe Ulbricht mitgeteilt, dass es am nächsten Tag in aller Frühe losgehe.
Während des Fluges, resümiert Leonhard, habe keiner ein Wort gesprochen. Alle hingen ihren Gedanken nach. Er habe seine Exil-Jahre Revue passieren lassen, mit Freud und Leid. Zehn Jahre später schreibt er seine Erinnerungen nieder: »Die Revolution entlässt ihre Kinder«, dieser Tage als Jubiläumsausgabe (KiWi, 10) neu ediert.
Die »Gruppe Ulbricht« landete auf einem polnischen Feldflughafen, dann ging es im Auto nach Skwierzyna nahe der Oder, wo Sowjetoffiziere sie als »neue deutsche Regierung« begrüßten, was man, so Leonhard, negiert habe. Doch Stolz schwingt in seiner Stimme noch heute mit.
Leonhard war das jüngste Mitglied der »Gruppe Ulbricht« und ist der Einzige, der noch Auskunft geben kann. Er selbst fragt sich noch immer, warum und von wem er, damals knapp 24 Lenze zählend, auf die Liste gesetzt worden war, auf der vornehmlich altgediente, erfahrene Funktionäre standen: neben Ulbricht (damals 51), Otto Winzer (43), Karl Maron (42), Richard Gryptner (44), Gustav Gundelach (58), Fritz Erpenbeck (48), Walter Köppe (53), Hans Mahle (33) sowie als Sekretär Otto Fischer.
Historiker haben mittlerweile herausgefunden, dass bereits am 6. Februar 1945, noch während der Krimkonferenz der »Großen Drei« (Stalin, Roosevelt, Churchill), Kominternchef Dimitroff Pieck beauftragt hatte, »absolut feste zuverlässige Genossen« auszuwählen, Mitte Februar standen 150 Namen auf dem Papier, Mitte April war die Zusammensetzung aller drei Gruppen, auch der »Gruppe Sobottka« und »Gruppe Ackermann« (für Mecklenburg und Sachsen) besiegelt.
Das »Säulenhaus« in Bruchmühle, in dem die Gruppe vom 1. bis 8. Mai 1945 lebte und arbeitete, sieht genauso aus wie auf alten Fotos. Darin wohnt immer noch die Familie Ewert. Die Gedenktafel, die in den 90ern wegen altersschwacher Aufhängung herausbrach, ist wieder angebracht, von Manfred Ewert, zum Jahrestag eigenhändig und »diebstahlsicher«. Ein Grüppchen »Eingeborener« steht davor. Darunter ein aus Leipzig zugezogener Professor, ND-Autor. Gelegenheit zum Plausch, denn die Texter dürfen nicht mit Leonhard ins Haus, nur die Fotografen. Klar, wer wünscht sich schon den Einbruch einer Armada von Journalisten in die eigenen vier Wände? Der Erkenntnisphilosoph fragt mich derweil - naturgemäß - nach dem Erkenntnisgewinn der Zeitreise bis dato. Den gibts, und spannend ist sie allemal - mit einem solch professionellen Akteur wie Leonhard. Wenn er in seinen Erinnerung kramt, ist man dabei: schreitet durch die Trümmerlandschaft Berlin, sieht Leid und Elend, liest die ersten Sowjetplakate: »Prokljataja strana« (Verfluchtes Land), »Ne wer njemzam!« (Traue keinem Deutschen), Parolen, die über Nacht verschwanden, nach der Zurechtweisung des Genossen Ilja Ehrenburg. Jetzt galt: »Pobjeshdjonowo ne bjut« (Einen Besiegten schlägt man nicht). Und Stalin verkündete: »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volks aber bleibt«.
Auch Ortschronistin Jutta Schrage hat es in die Bucholzer Straße gelockt. Von ihr höre ich, einige Einwohner seien nicht begeistert über die Gedenktafel für Kommunisten.
Während der halbstündigen Fahrt im Tourenbus zurück nach Berlin erzählt Leonhard, was im »Säulenhaus« beredet und bedacht worden ist. Ulbricht habe die Orientierung gegeben: antifaschistische Selbstverwaltungen in Berlin aufbauen. Als Bezirksbürgermeister sollten Sozialdemokraten oder NS-unbelastete Bürgerliche, möglichst mit Doktortitel, gewonnen werden. Auch Geistliche seien genehm. Auf die Frage »Und was ist mit unseren Genossen?« habe er geantwortet: »Die werden stellvertretende Bürgermeister, machen die eigentliche Arbeit.« Kommunisten sollten zudem die Dezernate für Personalfragen und Volksbildung besetzen. Leonhard fand einen Bürgermeister für Wilmersdorf, einen »Bürgerlichen wie aus unserem Bilderbuch«: Oberregierungsrat a.D. Dr. Willenbücher. Vom »Block der kämpferischen Demokratie« war die Rede, erinnert sich der Zeitzeuge und gesteht, angesichts heutigen Parteiengezänks »nostalgisch zu werden«.
Lang ists her. Aus der »kämpferischen Demokratie« wurde die Nationale Front. Und Leonhard selbst hat wohl nicht vermutet, dass sein Tänzchen mit Käthe Kern der späteren »Vereinnahmung« der SPD dienen könnte. Bei einem Ball im Schloss Niederschönhausen habe ihn KP-Funktionär Waldemar Schmidt aufgefordert: »Wolfgang, du weißt, was du zu tun hast: nur mit Sozialdemokratinnen tanzen!«
Auf dem Vereinigungsparteitag hätten ihn schon Zweifel geplagt. Und Leonhard berichtet, dass es zum berühmten Händedruck, dem späteren SED-Symbol, schon am 3. Januar 1946 zu Piecks 70. Geburtstag gekommen sei. Ebenfalls im Admiralspalast. Grotewohl sei nach der Gratulation von Oberbürgermeister Dr. Arthur Werner (ein »Bürgerlicher«), auf Pieck zugestürmt, die Hand ausgestreckt: »Wir haben keinen Ehrenbürgerbrief zu schenken, dafür etwas viel wichtigeres: einen festen Händedruck, der für ewig gilt.« Dass sich dieser später für Sozialdemokraten schmerzlich auswirken könnte - wer konnte das ahnen? Leonhard? Er erzählt, in Bruchmühle sei bei einer der allabendlichen Besprechungen der Ulbricht-Satz gefallen: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.«
Dieses Zitat schmückt auch den »Themenbaum« in Berlin-Lichtenberg, gegenüber dem Haus, in das die Gruppe nach dem 8. Mai einzog: Einbeckerstraße 41, früher Prinzenalle 80. Hier gibt es keine Tafel mehr, vormals gab es zwei: eine mit Ulbrichts Namen, zu seinem 70. Geburtstag eingeweiht (s. Foto), und eine ohne Nennung von Honeckers Vorgänger.
Der »Trupp Leonhard« zieht zu Fuß weiter - zu einem Döner Imbiss. Seine Erzählung während der Busfahrt hatte der lebhafte 84-Jährige mit der Bemerkung beendet: »Das weitere kann ich ja beim Türken erzählen.« Der heißt Cetin Ali, ist 36 Jahre alt und hat vor drei Jahren das Lokal übernommen, wie ich von ihm erfahre. Über zu viel Kundschaft kann er nicht klagen. Ali freut sich über das Gedränge vor seiner Theke. Doch keiner bestellt einen Döner; die Stiftung hat den Medienvertretern Verpflegungsbeutel mitgegeben wie weiland beim Pionier-Ausflug. Die freundliche Umarmung des Professors entschädigt den Imbiss-Inhaber, er strahlt, als Leonhard meint: »Von Ulbricht zu Ali - so könnte man die letzten 60 Jahre zusammenfassen.« Und dann erzählt er von den sonntäglichen Aktivtagungen in der vormaligen Gaststätte »Rose«. Genossen aus allen Bezirken berichteten der »Gruppe Ulbricht«. »Wir waren besser informiert als die sowjetischen Kommandanten.« Einmal habe es eine heftige Debatte gegeben, zum Thema Vergewaltigungen und Abtreibung. »Wir können uns nicht vor unangenehmen Fragen drücken«, beharrten die Genossen. Doch Ulbricht wiegelte ab: Diejenigen, die sich empören, hätten dies tun sollen, als Hitler den Krieg begann. Es wurden dann »Zentralen für Zwangsverkehr« eingerichtet, wo Frauen in Not Hilfe erhielten.
Endstation der Reise in die Vergangenheit ist die Wallstraße, wo sich der erste Sitz des Nachkriegs-ZK der KPD befand, in dem Leonhard Mitarbeiter der Abteilung Agitation und Propaganda wurde. In dem mit Zeichen der Tischlerinnung verzierten Haus - »worüber sich Pieck riesig freute« - residierte später der Dietz Verlag. Ins architektonische Schmuckstück verliebte sich auch die australische Regierung, erwarb es für ihre Botschaft. Canberra weiß um die Historie des Hauses, sagt der stellvertretende Missionschef. Der Raum, in dem das ZK tagte, präsentiert sich im alten Outfit. Ich bitte, dass Leonhard sich von den Interviews in der Botschafts-Kantine zwecks »historischer Aufnahme« losreißt, mit in den Saal kommt. Er tuts. Vor der Tür entfleucht ihm ein herzhaft-offenes Wort: »Hier wars. Ach ist das schön!« - Wolfgang Leonhard, der Emigrant, ist heimgekehrt.
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