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ebb Taleban vor letzter Schlacht?

Ultraislamisten eroberten Hauptquartier Dostums Von Thomas Ruttig

  • Lesedauer: 4 Min.

Das Kriegsglück in Afghanistan neigt sich wieder einmal den Taleban zu. Am Sonntag gelang es den Ultraislamisten, die militärisch wichtige Stadt Shibarghan im Norden des Landes zu erobern. Unterdessen verließen 35 Hilfsorganisationen Kabul.

Shibarghan in der nordafghanischen Provinz Dshosdshan ist nicht gerade das, was man eine Metropole nennt, selbst für afghanische Verhältnisse nicht. Außer den nahen Erdgasfeldern zeichnet die Provinzstadt allein aus, daß sie Hauptquartier des bis vor wenigen Monaten mächtigsten Taleban-Gegners ist, des früheren Generals und Chefs der Eingreiftruppe von Expräsident Najibullah, Abdul Raschid Dostum. Der Fall Schibarghans, nun schon zum zweiten Mal, ist deshalb vor allem für ihn eine Katastrophe.

Mit ihrem neuerlichen Sieg ist für die Taleban erneut der Weg nach Mazar-e Scharif frei, in die letzte größere Stadt außerhalb ihrer Kontrolle und Sitz der Gegenregierung ihrer Widersacher Schon berichten die Taleban, auch 40 Kilometer östlich der von Flüchtlingen überfüllten Stadt hätten sie die Verteidigungslinien ihrer Gegner durchbrochen. Offenbar versuchen sie von der Provinz Kunduz aus, Mazar-e Scharif in die Zange zu nehmen. Fällt die Stadt, kontrollieren die Taleban außer einigen unzugänglichen Bergregionen das gesamte Land.

Den jüngsten Vormarsch konnte auch massive ausländische Militärhilfe für die Taleban-Gegner nicht verhindern. Abgesehen von kontinuierlichen iranischen Waffenlieferungen hatte sich dabei vor allem Rußland exponiert. Auf Berichte der .»New York Times«, es habe trotz UN-Bemühungen um ein internationales Waffenembargo gegen Afghanistan seine Lieferungen an die Anti-Taleban-Allianz wieder aufgenommen, reagierte das Moskauer Außenamt am vorigen Dienstag mit der Erklärung, man halte die Idee eines Embargos zwar für »attraktiv«, aber »praktisch undurchführbar« und deshalb für eine »ineffiziente Maßnahme, die nur eine der Parteien begünstigt«, nämlich die Taleban, wegen der unkontrollierbaren Grenze zu Pakistan. Sergej Osnobischew, Chef des unabhängigen Moskauer Instituts für strategische Bewertungen, drückte es weniger diplomatisch aus: Die Taleban seien eine »klare Ge-

fahr« für Rußland, deshalb sei es »nur natürlich«, daß es deren Gegner unterstütze.

In Mazar-e Scharif müssen sich die Taleban allerdings erneut auf heftige Gegenwehr gefaßt machen. Dostams Stelle als stärkste Kraft hat zumindest dort inzwischen die schiitische Partei der islamischen Einheit (Wahdat) eingenommen, an die auch die iranischen Rüstungsgüter direkt geliefert wurden. Sie stützt sich auf die schiitischen Teile der Bevölkerung, die 1997 die Taleban mit einem Aufstand schon einmal nach der vermeintlichen Einnahme wieder aus der Stadt jagten. Seither hatten die eigentlich

mit der Wahdat verbündeten Truppen Dostams die Stadt belagert. Den Zwist verschärfte noch, daß Dostum nichts von den iranischen Waffen erhielt. Frustriert durch die Niederlage von Schibarghan könnten sich seine Kämpen jetzt auf die Seite der Taleban schlagen.

Die lassen ihre militärischen Erfolge derweil auch auf internationale Ebene durchschimmern. Ein UN-Team unter dem polnischen Koordinator für humanitäre Hilfe für das durch über zwei Jahrzehnte Krieg schwer zerstörte Land, Bronek Szynalski, verließ nach erfolglosen Gesprächen mit Taleban-Ministern am Sonntag wieder Kabul. Szynalski hatte versucht, die Ultraislamisten von ihrem Beschluß abzubringen, die internationalen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen faktisch zu kasernieren und sie damit von der örtlichen Bevölkerung weitgehend zu

isolieren. Sie sollten in ein zerschossenes früheres Hochschulinternat ohne Wasser und Strom ziehen und für dessen Reparatur auch noch aufkommen.

35 nichtstaatliche Organisationen, darunter Save the Children, Ärzte ohne Grenzen und die deutsche Welthungerhilfe, zogen daraufhin Ende Juli unter Protest aus Kabul ab. Zuvor hatten die Taleban

afghanische Mitarbeiter verhaftet, zwei waren im ostafghanischen Dshalalabad sogar von bisher Unbekannten entführt und ermordet worden. Seither sind nur noch UNO und das Internationale Rote Kreuz in Kabul vertreten.

Von der ausländischen Hilfe sind nach unterschiedlichen Angaben etwa 40 bis 60 Prozent der auf 1,2 Millionen Menschen geschätzten Kabuler Restbevölkerung abhängig. 80 Prozent der Projekte, von der Bildung bis zur Minenräumung, sind durch die Taleban-Repressalien lahmgelegt. Durch die Einstellung der Versorgung mit sauberem Trinkwasser drohen jetzt sogar Seuchen. Aber die Taleban geben sich unbeeindruckt. »Auf die eine oder andere Art«, sagte einer ihrer Minister seinen Landsleuten im Radio, habe Allah bisher immer für das Nötige gesorgt.

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