Gräberfeld West...

Der Krieg nach dem Krieg: Wie nach dem 8. Mai 1945 in Europa weiter gestorben wurde und »nebenbei« neue Bündnisse entstanden

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.
Am 8. Mai wurde in Berlin die endgültige Kapitulationsurkunde des Hitler-Regimes unterschrieben. Man feiert den Tag vor sechs Jahrzehnten als Beginn des Friedens in Europa. Doch dem wollte man sich nicht überall ergeben. Es wurde weiter gekämpft. Und gestorben. Für neue Bündnisse.

»Neige Dein Haupt in Ehrfurcht vor den Gefallenen. 1933 - 1945«. Kein Mensch ist auf dem Friedhof von Hartenholm. Er liegt ein wenig außerhalb. Die Sonne zaubert verwehende Figuren aus Licht und Schatten. Den Gedenkstein für die Gefallenen jedoch lässt sie im Dunklen. So wie der ganze Ort im Dunkel lässt, vor wem man das Haupt verneigen soll. Und weshalb.

Ein schönes Dorf mit kollektiver Amnesie

Die eigenen Toten hat man namentlich an der Mauer der kleinen Kapelle vermerkt. Viel zu viele sind es. Zumal, wenn man sie vergleicht mit den paar Häuserzeilen, die das Dorf im Schleswig-Holsteinischen ausmachen. Doch sind vor den Haustüren der Bauern noch andere gestorben. Nur: Keiner kennt deren Namen. Und eigentlich will auch niemand über sie sprechen. Der Menschenflecken zwischen Wald und Feldern, der so viel Geschichtssinn aufbringt, um an den Ortseingangsschildern zu vermerken, dass man 1963, 1966 und 1969 schönstes Dorf der Region geworden war, hat beim Thema Jagd auf Kriegsgefangene plötzlich so etwas wie kollektive Amnesie.
Die Schnitzel brutzeln in der Pfanne. Die junge Frau bereitet das Mittagessen vor. Gleich müssen die Kinder aus der Schule kommen. Sie ist dennoch freundlich zu dem Fremden, der an ihre Türe klopft. Dass hier, in der einstigen Sägerei Tode, wo sie seit geschätzten drei Jahrzehnten aufgewachsen ist, ein Kriegsgefangenenlager war, erstaunt sie sehr: Nie habe sie davon gehört. Doch in ihrer Küche müssen sie gesessen haben, abends: Franzosen, Belgier, Polen, Russen
Die Frau ist interessiert, kommt näher, schickt rasch den Hund vor die Tür, der sich eingeschlichen hatte. Sie hebt bedauernd die Hände - vielleicht, dass ihr Vater, der den Hof von seinem Vater übernommen hat, etwas weiß
Und seltsamerweise, der Bauer, grau, aber drahtig, weiß etwas. Ganz anders als alle, die der Reporter im Dorf bisher gefragt. Der Bauer nimmt sich Zeit, es ist, als wolle er jetzt alles auf einmal los werden. Als Knabe sei er auf den Schultern der Franzosen geritten. Kekse versteckten sie für ihn. Wut mischt sich ein. Jeder, der sagt, die Gefangenen hattens gut gehabt auf den Höfen, wolle nur von deren Elend und eigener Schuld ablenken. Er weiß noch genau, wie der Ortsbauernführer mit dem Knüppel dafür sorgte, dass das Soll geschafft wurde. Und wie der Bauer so ins Erzählen kommt, da erinnert er sich auch an die Schießerei, die sich im Kakelholz - oder war es im nahen Landesforst? - zugetragen hat.
Es war der 8. Mai 1945. In Berlin bereitete man den Tisch zur Unterzeichnung der vollständigen und bedingungslosen deutschen Kapitulation vor, da rückte eine Kolonne englischer Militärlaster in Hartenholm ein. Beim Befehl »Absitzen!« sprangen Wehrmachtssoldaten herab. Englische Offiziere gaben die Befehle, die Truppe entsicherte Mpi und Gewehre. In Schützenkette ging es vorwärts, bald kam Gefechtslärm auf. Nach einiger Zeit schleppten die Deutschen ihre »Beute« aus dem Wald.

Den fünften »Russen« hat man erschlagen

Vier tote Russen und einer der noch ein wenig lebte, bis man ihm die »Gnade« gab und auch ihn erschlug. Genauer weiß es der Bauer, der damals ein Knabe war und heute im Quartier der toten Russen wohnt, nicht.
Ein wenig mehr hat Gerhard Hoch in Erfahrung gebracht. Er stammt von hier, war in jenen Tagen Kriegsgefangener in den USA. Heimgekehrt, sprach er mit einem Mann, den die Briten in den Nachkriegstagen zum Bürgermeister von Hartenholm bestimmt hatten. Harry Weller hieß der und war Offizier auf dem torpedierten Flüchtlingsdampfer »Wilhelm Gustloff«. Anders als die meisten seiner Passagiere überlebte er. Als erster Mann von Hartenholm sprach Weller über die Hatz im Frieden »gegen Russen«. Die Kriegsgefangenen, so hat Weller berichtet, hätten Waffen aufgelesen, die deutsche Landser auf der Flucht vor Montgomerys Truppen weggeworfen haben. Dann zogen die nun freien Männer los. Es gab in der Gegend so viele Sklavenlager, die befreit werden mussten. Möglich auch, dass sie nur jene »besuchen« wollten, die ihnen all die Jahre so viel »Gastfreundschaft« angedeihen ließen.
Spekulationen. Man kennt ja nicht einmal die Namen der Toten, die zunächst am besagten Kakelholz begraben wurden. Später hat man die fünf nach Schleswig überführt. Gerhard Hoch nennt die aktuellen Ruhestätten: Gräberfeld West, Reihe 37a Nr. 993-996 und Gräberfeld Süd Reihe 366 Nr. 992.
Die wirklichen Vorgänge sind vermutlich nicht mehr aufzuklären. Vor ein paar Jahren noch gab es einen Augenzeugen. Der lebt nun in einer der einstigen Kriegsgefangenenbehausungen. Es ist heute Altersheim und der Mann, dem vor Jahren niemand zuhören wollte, als er immer wieder die »alten Geschichten« erzählte, kann sich heute an nichts mehr erinnern. Das macht vieles bequemer.
Vermutlich - und der Hobby-Historiker Gerhard Hoch ist nach langen Recherchen davon überzeugt - wird niemand die Mörder anklagen. Schon weil die Frage, wer die Männer warum umgebracht hat, nicht einfach zu entscheiden ist. Waren es die deutschen Landser? Wer bewaffnete sie, gab die Beehl zur »Partisanenjagd«?
Aus Schleswig-Holstein gibt es eine Reihe überlieferte, doch nicht gerichtsfeste Berichte, die besagen, dass immer wieder deutsche Einheiten gegen »marodierende Fremdarbeiter« eingesetzt wurden. Es soll auch mal eine Kommission der Roten Armee erschienen sein, um nach den toten Landsleuten zu forschen. Doch gemäß Stalins Weisung, dass jeder, der den Deutschen nicht bis in den Tod Widerstand geleistet hat, ein Verräter sei, meinte man wohl, dass dem NKWD nur Arbeit abgenommen worden ist. Sich deshalb mit den Briten anzulegen, ist in Moskau sicher niemandem in den Sinn gekommen.
In der norddeutschen, einst britisch besetzten Gegend spricht man - noch immer geheimnisvoll - von »Churchills deutscher Geisterarmee«. Strickt gegliedert und geführt von deutschen Offizieren soll es noch bis 1946 in Schleswig-Holstein deutsche Verbände unter britischem Oberbefehl gegeben haben. Auch in Hartenholm habe eine deutsche Nachrichtentruppe gelegen, die nur auf den britischen Befehl gewartet hat, es Stalins Truppen abermals, diesmal so richtig zu »zeigen«. Gemeinsam mit britischen Offizieren habe man abends im einstigen Kriegsgefangenenquartier die alten Lieder geschmettert. Nur ein Gerücht? Die Kriegstagebücher der Briten sind tabu, der eiserne Vorhang auf diese Weise noch heute fest und undurchlässig.
Doch auch andere Westalliierte haben allzu schnell vergessen, wie sie die einst feindlichen deutschen Truppen als »Reinigungskompanien« benutzten. Noch bis zum 20. Mai gab es Gefechte auf der den Niederlanden gehörenden Ferieninsel Texel. Dort hatten sich am 6. April 1945 georgische Hilfstruppen der deutschen Wehrmacht - die einst zur Wlassow-Bande gehörten - gegen ihre Herren erhoben. Es war ein Gemetzel. Die Westalliierten geboten ihm kein Einhalt. Sie ließen es zu, dass die Wehrmacht Verstärkung auf die Insel schaffte. Stalins Abgesandte warteten auch hier, bis die »Fritzen« anstehende sibirische Optionen erledigt hatten. 2000 deutsche Soldaten, 500 Georgier und 200 Niederländer, so sagt es die grobe Statistik, starben auf Texel, nachdem der Zweite Weltkrieg längst beendet war.

Minensucher retteten Kompetenz in die NATO

Wer sich heute fragt, wie einstige Feinde zu Bündnispartnern und sogar zu Freunden wurden, der kann die Geschichte der German-Mine-Sweeping-Administration nicht beiseite legen. Man begann mit sieben Minenräumdivisionen, die all das, was Hitlers Militärs und deren Feinde an Explosivem in Atlantik, Mittelmeer, Nord- und Ostsee geworfen hatten, entschärfen sollten. Doch nicht nur deshalb bestand das deutsche Oberkommando der Marine bis zum 21. Juli 1945 fort, als hätte es nie eine Kapitulation gegeben.
Die Kommandeure dieser anfangs 27 000 Mann starken Einheiten unter alliierter Aufsicht, so lässt sich mit einem einfachen Namensvergleich belegen, waren die ersten Männer der Bundesmarine. Es ist kein Zufall, dass die westdeutsche Marine am 1. April 1957 als erstes zwei Minenräum-Flottillen in den NATO-Verbund einführte. Sogar die Schiffe waren die alten. Die Kapitäne und Admirale trafen beim Bund eine Gruppe Offiziere, die von den US-Streitkräfte gleich nach dem Ende des Krieges als »Naval Historical Team« zusammengefasst worden waren. Im Auftrage der USA analysierte man vergangene Schlachten - um für neue zu lernen. Gleiches geschah beim Heer und der Luftwaffe. Leute wie Hitlers Generale Halder besorgten Analysen. Seine Assistenten - Burkhart, Müller-Hildebrand, Reinhardt, Zerbel, Büchs, Runge, Wagner, Heye - wurden große »Nummern« bei der Wiederaufrüstung der späteren Bundesrepublik Deutschland. Und welchen Wert die deutschen Geheimdienstler für die USA hatten, kann man daran ermessen, dass es deutsche Offiziere der ehemaligen Abteilung »Fremde Heere Ost« waren, die den USA erklärten, mit welchen Absichten und Kräften sich die Sowjetunion in die Mandschurei begab.
So hilfreiche (neue) Verbündete wurden natürlich gefördert. Man initiierte die Organisation Gehlen, heute bekannt als Bundesnachrichtendienst. Der zieht demnächst um nach Berlin. Wer hofft, in Traditionszimmern Aufschluss über Gründungszeiten zu erlangen, ist an der falschen Adresse.
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