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  • Politik
  • art forum berlin - die Messe zum dritten Mal zwischen Kommerz und Klamauk

Das Respekt erheischende Nichts

  • Hermann Raum
  • Lesedauer: 6 Min.

Carsten Nicolai, bausatznoto, 1997-98, Stahl, Gummi, Plattenteller, Mischpult, Schallplatten, 200 x 100x80 cm

Foto: Katalog

Im Urteil über das »art forum berlin«, das vom 1. bis 4. Oktober in Berlin stattfand, sind sich Beobachter wie Beteiligte in drei Punkten einig: Die Messe hat sich quantitativ ausgedehnt, organisatorisch perfektioniert und ihre Stellung in der europäischen Kunst-Messe-Landschaft gefestigt. Sie gewann auch an konzeptioneller Deutlichkeit als repräsentativer Spiegel des Zustandes dessen, was in dieser Zeit als »Kunst« gilt. Verwirrend pluralistisch, ja chaotisch erscheint das Bild, das dem nicht professionellen Betrachter beim Durchwandern des Labyrinthes im Berliner Internationalen Congress Centrum (ICC) eingehämmert wurde. Es verschleiert weitgehend die Konsequenz, mit der hier die Richtmaße für marktfähige, zeigenswerte Kunst ausgegeben wurden. Was sie unter »progressiven, führenden Galerien« verstehen, haben die Organisatoren mit der Auswahl der 146 Galerien plus 17 besonders geförderten Neulingen und mit der Abwehr der Proteste der Abgewiesenen energisch belegt.

Interessen werden hier deutlich, die sich zunächst aus dem Konkurrenzkampf mit der Kölner Messe und dem Aufstiegsbestreben der Berliner Galerien ergeben. Handgreiflich ist auch die Selbstdarstellung der Banken und der privaten Wirtschaft. Die Bankgesellschaft Berlin, »eine der größten Arbeitgeber in Berlin-Brandenburg«, hat mit der Messegesellschaft einen Fünfjahresvertrag als Hauptsponsor geschlossen, begründet mit den beiderseitigen »hohen Anforderungen an Qualität und Leistung«. Die Bankgesellschaft finanziert u. a. den Aufenthalt einer erlesenen Schar von sogenannten Kuratoren, führenden Museumsdirektoren vor allem aus der USA, tonangebenden Kunstmanagern und weit über 100 bedeutenden Sammlern, die alle zu Ankäufen auf der Messe stimuliert werden sollten. Die Veranstalter lassen folgerichtig

den wirtschaftlichen Effekt der Messe für das Umfeld Berlin untersuchen.

Der Haupttext des Messekataloges würdigt ausführlich das »Corporate Collecting«, die Kunstsammlungen der Banken und Konzerne. Mag der finanzielle Aufwand für die Ausschmückung der Geschäfts-, Arbeits-und Repräsentationsräume der Machtzentrale auch unter dem Stand der Portokasse bleiben, so kann doch der Werbe- und Alibi-Effekt recht beachtlich sein. Mit Ausnahme der Grundkreditbank Berlin, die eine spannungs- und widerspruchsreiche Sammlung von Kunst aus der DDR angelegt und früh ausgestellt hat, folgen die Sammlungen der Bankhäuser und großen Firmen dem, was der Markt als »Innovationen mit Wertzuwachs« anbietet.

Dem entsprechen auch die von einer prominenten Fachjury für die Auszeichnung mit dem Kunstpreis der Messe ausgewählten »Skulpturen«. Preisträger wurden die Italienerin Monica Bonvicini, deren Bauschuttanhäufung »2 Tonnen Alte Nationalgalerie« im Messekatalog abgebildet wurde wie auch die drei minimalistisch glatten Kästen des zweiten Preisträgers: Liam Gillick aus Großbritannien war Teilnehmer an der letzten documenta. Eine große Berliner Baufirma hat die Preise mit 60 000 Mark recht preisgünstig finanziert, und der Katalogtext bescheinigt den beiden, daß sie »mit ihren Arbeiten zur Visualisierung des Mythos Berlin im dritten Jahrtausend beitragen«, bzw. »wegweisend für das neue Jahrtausend« sind - was zu befürchten steht. Vier weitere Kisten mit Bauschutt gehören noch zum Messeangebot, eine 2x8 m-Fläche aus Kalksandsteinen vom Baumarkt, ein Haufen Glasscherben, acht rotgetönte Kugellampen mit Wackelkontakt an einer Kojenwand (Preis auf Anfrage), etwa 20 aufgetürmte Neonröhren mit Kabeln und Steckern, und immer so weiter. Schließlich auch die »Kompakte Exposition Nr. 1«: 60 aufeinandergestapelte Gemälde eines Moskauer Malers.

Da erinnert man sich doch der Verlautbarungen der Messeleitung im vorigen und vorvorigen Jahr, mit der Kunst

eine Brücke nach Osten schlagen zu wollen. 1998 Fehlanzeige: Aus allen osteuropäischen Ländern hatte man vier Galerien teilnehmen lassen. Die sehen mit Ausnahme einer ungarischen so aus, als sei dies der Lohn für ihre Angleichung ans Durchschnittsniveau gewesen.

Auch eine der zwei übriggebliebenen originär ostdeutschen Galerien, »Eigen + Art« Leipzig, jetzt Berlin, zu DDR-Zeiten legendär und spektakulär unangepaßt, hat ihre Besonderheit eingebüßt. Carsten Nicolai, wie Bruder Olaf einst ein unabhängiger Maler, stellte als Hauptwerk des Messestandes vier identische Plattenspieler auf, und Olaf hatte zwei türgroße Platten mit Furnierimitat beklebt.

Solcherart Absagen der Autoren an die Zumutung, weiterhin Kunstwerke herstellen zu sollen, beherrschen den Markt schon lange, und er lebt damit. An dieser Tatsache brechen sich die Fragen, wer das haben und bezahlen will. Doch dezent meidet die ganze Heerschar der Kunstpropagandisten, den Ruf des Kindes in Andersens Märchen zu vernehmen.

Ein langer Weg nach dem Ende der Moderne hat Kunstbetriebe, Markt und Kunstpublizistik, eingeschlossen Museen und die Lehre an Akademien und Universitäten, in eine nicht mehr zu hinterfragende, unerschütterliche Maßstablosigkeit und Beliebigkeit geführt. Selbst viele kritische Geister haben sie verinnerlicht. In Auflösung begriffen sind seither alle Bindungen, Verbindlichkeiten und Sinngebungen, Werte und Formen.

Auf dieser Messe ließen die Angebote von älteren, durch die documenta berühmt gewordenen Künstlern erkennen, wie weit diese Entwicklung zurückreicht. Die 120 gerahmten DIN A4-Blätter »Ein Jahrhundert«, auf denen Hanne Darboven 1972 alle Tage aller Jahre fortlaufend handschriftlich aufgezeichnet hat, füllen eine große WancTniit einem Respekt erheischenden MiGhts»an-.Kunst, ebenso«wie die lange Reihe winziger Papiere, auf denen Richard Tuttle flüchtige Wasserfarbenflecken hinterlassen hat, und der auf 12 x 20 m Bodenfläche von Richard Long

abgelegte Marmorschutt. Die solchen Gebilden von ebenso berühmt gewordenen Kunstschriftstellern und Managern zugesprochenen geistigen und künstlerischen Qualitäten bilden das Gleitmittel, auf dem buchstäblich alles auf die Ebene »Kunst« und auf den Markt geschoben werden kann.

Zwar trat die Messe insgesamt in 40 Jahre alten Schleifspuren geschäftig auf der Stelle, bot aber doch auch in vielen Ständen erfrischende Aha-Erlebnisse. Nicht nur, aber vor allem war es wieder die Fotografie, in der das Neue auch mit neuen Qualitäten in Erscheinung trat. In der Menge der oft wandfüllenden Großfotos und ausufernden Fotoserien waren Realitätsverlust und Belanglosigkeiten ebenfalls reichlich zu sehen (letzteres auch im pornografischen Genre). Doch schlug hier die Wirklichkeit mit einer Intensität durch, in der sich die Sehnsucht (Seh-Sucht) nach dem Büd, ja dem Abbild, nacK dem Manschen und seiner Rolle in der Welt spiegelt. .».««_»«-.?

Freilich scheint fast nichts zu gehen ohne den Gag, ohne unterhaltsame Tricks und sich selbst am wichtigsten nehmende Technik. Regale, die nichts enthalten,

aber, beidseitig mit 1.1-Fotos beklebt, gefüllte Bücherschränke täuschend nachahmen; eine Serie von riesigen auf den Betrachter gerichteten Pistolenmündungen usw., und immer wieder die Frage, wer das kauft und warum auf einer Kunstmesse.

Daneben die hoheitsvollen Gesichter iranischer Frauen, überzogen mit Schleiern von arabischer Schrift: Gedichte eines vertriebenen Poeten; Bilder von monumentalen Abbruchlandschaften, Großbaustellen, Elendsquartieren mit ihren Kreaturen, nachdenklich beobachteten anonymen Charakteren. Und dazwischen Erkundungen fotospezifischer Strukturen, Verfremdungen und Transformationen, kostbare Abzüge aus der Klassik der Fotografie und - dies ganz vereinzelt: Natur in ungebrochener Poesie und Schönheit, auch die menschliche Natur

Sind dies Zeichen dafür, daß die zwischen disneyländlichen Klamauk und unsirinlicher Pseudointellektualität verendende bildende Kunst endlich doch noch von ihrem Angstgegner Fotografie ins Abseits manövriert wird? Daß sie solche Fragen provozierte, hat den Besuch von »art forum berlin« sinnvoll gemacht.

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