- Politik
- Thomas Anz über die Lust, die man aus Büchern gewinnt
Sag mir, was du liest
Wer liest, will Lust«, meint Thomas Anz. Das bedeutet aber, daß Lesen, zeitweise, auch mit einer gewissen Unlust verbunden sein muß. Weil es leider so ist, daß der Mensch für dauernde Glücksgefühle nicht eingerichtet ist. Intensiv genießen können wir nur den Kontrast. Den Moment, wenn ein Wunsch sich erfüllt, wenn aus Dissonanz Harmonie wird, wenn Spannung sich löst. »Völlige und dauerhafte Entspannung« allerdings sei »nur in tödlicher Ruhe zu haben«, betont der Autor. »Trennung, Spannung, Differenz hingegen bedeuten Leben«.
Ein Buch, das Literatur auf andere Weise ergründet, als es die Wissenschaft gewöhnlich tut. Thomas Anz, Jahrgang
1948, Professor für Neuere deutsche Literatur in Bamberg, fragt nach den Beweggründen für Lektüre im allgemeinen und nach Bedürfnissen, die einzelne Bücher erfüllen, im besonderen. Er hat sich durch Literaturwissenschaft, Philosophie, Ästhetik, Psychologie der Jahrhunderte hindurchgelesen, das Literaturverzeichnis am Schluß umfaßt 17 engbedruckte Seiten, der Anmerkungsapparat gar 26 Seiten. Doch bei aller wissenschaftlichen Akribie ist nicht die Art Fachtext entstanden, wie sie in diesem Metier leider nicht selten ist. Das liegt nicht allein an Ausdrucksvermögen und gestalterischen Fähigkeiten von Professor Anz, sondern vor allem an seiner Souveränität, gegenüber den Fachkollegen keines Kompetenznachweises zu bedürfen. Zumal er viele von ihnen ja auch kritisiert, weil sie in der Literatur alles mögliche untersuchen - poetische Verfah-
rensweisen, Stoffe, Themen und Motive, Erzählperspektiven und Figurenkonstellationen, Gattungskonventionen und Diskursordnungen und so weiter - aber eigentlich oft das Wichtigste vergessen: »die Frage nach dem Effekt oder der psychischen Funktion all dessen, was wir da mehr oder weniger gründlich am Text analysiert haben«. Genau an diesem Punkt, so sei in eigener Sache hinzugefügt, müßte vornehmlich auch die Literaturkritik ansetzen: daß der Kritiker als professioneller Leser schon die erste emotionale Reaktion bei der Lektüre bewußt wahrnimmt und sein Erleben durchdenkt, ohne daß dies in jedem Falle Gegenstand der Rezension sein müßte.
Aber Thomas Anz dürfte mit seiner Untersuchung weit über das Fachpublikum hinauswirken und auch Leute ansprechen, die einfach gerne lesen und den Lektüregenuß durch Wissen vertiefen
möchten. Nicht zuletzt erfahren sie dadurch ja eine Menge über sich selbst.
Wodurch lasse ich mich bei meiner Lektüreauswahl leiten? Was suche ich in der Literatur? Entspannung? Tatsächlich? Oder doch eher Spannung, weil die Wirklichkeit davon zu wenig hat? Warum mag der eine das Phantastische, und der andere lehnt es ab? Was wird als schön empfunden? Wieso kann auch Trauriges in der Literatur schön sein, worin besteht die Faszination des Schreckens, des Bösen, der Angst? Warum sind Thriller, Katastrophenszenarien so populär? Was gibt es für Möglichkeiten, um Spannung zu inszenieren? Was kann alles hervorbrechen, wenn jemand lacht? Es sind ja vielfach gemischte Gefühle, die wir durchleben, einfach deshalb, weil auch die Psyche nicht homogen ist. Lektüregenuß hat oft auch mit speziellen Kompromissen zu tun, wie sie auf andere Weise auch das Leben verlangt. Denn ein ganz und gar kompromißloser Mensch würde weltfremd, psychisch verkrüppeln oder zerbrechen.
Welchen Persönlichkeitsstrukturen welche Art von Literatur entspräche, welche Zusammenhänge es gäbe zwischen Lektüreauswahl und individueller Lebenssituation, solche Überlegungen
könnten auf der Grundlage dieses Buches sogar noch weiter ins Psychologische gehen. Sag mir, was und wie du liest, und ich sage dir, wer du bist.
»Literatur ist nach meinem Verständnis eine Simulationstechnik« - damit meint der Schriftsteller und Wissenschaftler Dieter Wellershoff, der hier zitiert wird, keineswegs nur die sogenannte postmoderne Literatur, die von der Lust lebt, mit der Realität zu spielen und alle möglichen Regelsysteme außer Kraft zu setzen. Auf welche Weise auch immer, ist Literatur »ein Spielfeld für ein fiktives Handeln«, sagt Wellershoff, »in dem man als Autor und als Leser die Grenzen seiner praktischen Erfahrungen und Routinen überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko dabei einzugehen«.
Vieles, was in diesem Buch über die Wirkung von Literatur gesagt wird, ist auch auf andere Kunst- und Mediengenüsse übertragbar, insbesondere das Kino - mehr noch, es betrifft das Leben überhaupt. »Denn alle Künste«, so schrieb Bertolt Brecht, »tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst.«
Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. Verlag C. H. Beck. 287 Seiten, broschiert. 39.80 DM.
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