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  • Politik
  • Gegenrevolution in Preußen 1848

Der Kommißkopf

  • Konrad Canis
  • Lesedauer: 5 Min.

Als in den ersten Novembertagen 1848 der preußische König Friedrich Wilhelm IV den General Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg, als illegitimer Sohn Friedrich Wilhelms II. der Krone eng verbunden, zum Ministerpräsidenten berief, schien das kein gutes Zeichen. Er war als Kommandierender General in Schlesien verantwortlich, daß am 31. Juli im kleinen Städtchen Schweidnitz Soldaten in eine bereits aufgelöste Demonstration geschossen und 14 Menschen getötet hatten. Erinnerungen wurden wach an die Tage vor der Märzrevolution, als in Berlin Militär gegen Demonstranten eingesetzt worden war

Im Herbst des Revolutionsjahres bestand in Preußen eine zwiespältige Lage. Die Revolution war steckengeblieben. Es gab außerparlamentarische Aktionen in Berlin und in anderen Städten, aber auch Revolutionsmüdigkeit und den Ruf nach Ruhe und Ordnung - nicht zuletzt mit dem Ziel, den Stillstand des wirtschaftlichen Lebens zu beenden. Und es gab die von Liberalen und gemäßigten Demokraten dominierte preußische verfassungsgebende Versammlung, die ein Verfassungswerk vorbereitete, das eine parlamentarische Monarchie anvisierte, und bereits Gesetze angenommen hatte, die Privilegien des Adels abschafften.

Die außerparlamentarischen wie die parlamentarischen Aktivitäten motivierten die alten Herrschaftseliten zum Handeln. Brandenburg verstand die Zeichen der Zeit. Den reformunwilligen König mahnte er, »veränderte Formen zu finden, um die alte Autorität zu bewahren«.

Wie ist diese bemerkenswerte Wende seit dem März 1848 zu erklären? Exi-

stentielle Katastrophen - Revolutionen, verlorene Kriege, totale Zusammenbrüche - vermögen bei manchen, die ein altes System tragen, Kräfte freizusetzen und Einsichten zu erzeugen für die Unvermeidlichkeit eines Wandels. Das gilt für die preußische Staatsmacht nach dem Zusammenbruch 1806 wie nach der Märzrevolution 1848. Genauer: Es waren jeweils Reformfraktionen aus der hohen Bürokratie und der Generalität, die eine inspirierende Rolle übernahmen. Dieser Richtung schloß sich Brandenburg an.

Die reformkonservative, auf die Kooperation mit dem Bürgertum ausgerichtete Strategie der Regierung erstreckte sich auf vier Schwerpunkte. Erstens ging sie mit dem Einsatz von Militär gegen revolutionäre Aufstände vor Diese konnten lokal begrenzt und erstickt, Berlin weitgehend ruhig gehalten werden. Das mit dem Bürgertum gemeinsame Interesse war, Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Zu diesem Zweck instrumentalisierte die Regierung die Revolution, indem sie die Aufstandsgefahr dramatisierte, um ein Eingreifen zu legitimieren.

Zweitens wahrte sie das konstitutionelle Prinzip. Nachdem sie das renitente Parlament aufgelöst hatte, oktroyierte sie am 5. Dezember 1848 eine eigene Verfassung. Sie entsprach der monarchischen Spielart des Konstitutionalismus, die die Krongewalt ins Machtzentrum rückte, den parlamentarischen Instanzen jedoch Mitspracherecht einräumte. Ihre Akzeptanz reichte im Bürgertum viel weiter als bei den adligen Hochkonservativen. Sie gewährte Grund- und Freiheitsrechte, jedoch mit gravierenden Ausnahmeregelungen. Gleichzeitig ging die Regierung in der Innenpolitik und in der Verwaltungspraxis daran, mittels staatlicher Autorität die verfassungsmäßigen

Freiheiten administrativ zu begrenzen.

Drittens inaugurierte sie eine Reformpolitik, die vom Wirtschaftsbürgertum bis zu den Bauern die besitzenden Schichten fest an das System binden sollte. Die Erste Kammer des Landtages wurde zu einer Instanz nicht nur der Großagrarier, sondern des gesamten großen Besitzes. Ihn bevorzugte auch das Dreiklassenwahlrecht für die Zweite Kammer, das Abgeordnetenhaus. Großbürgertum und Großgrundbesitz sollten Herrschaftselite werden. Das Ablösungsgesetz vom März 1850, das den Loskauf der Bauern von den feudalen Abhängigkeiten regelte, gab einen wichtigen Impuls, die Bauernschaft mit dem Staat auszusöhnen. Diese Regelungen verdeutlichen die Grundlinie: auf der Basis der sozialen Ungleichheit die Interessen aller Besitzenden zum Tragen zu bringen und ihnen jeweils spezifisches politisches Gewicht zu verleihen. Verfassung und Gesetzgebung benötigen eine Form, schrieb Brandenburg dem König, »welche die durch Besitz und Bildung berechtigten Klassen befriedigt, ohne die Autorität der Regierung zu schwächen«.

Viertens nahm die Regierung Kurs auf einen preußisch-deutschen Bundesstaat. Ein solches Ziel sollte die nationalen Einheitsforderungen mit einer Hegemonie des preußischen Staates in Deutschland verknüpfen. Es versprach der Regierung politisch wie taktisch von allen ihren Vorhaben den größten politischen Gewinn. Doch am Ende befand sich die preußische Deutschlandpolitik in der Sackgasse und kapitulierte vor der Überzahl an Kontrahenten: Die Frankfurter Nationalversammlung bestand bis zu ihrem Ende im Mai 1849 trotz zeitweiliger Kooperation darauf, daß Preußen in Deutschland aufgehen und der preußische König Kaiser in einem monarchisch gebremsten parlamentarischen System sein müsse. Österreich beharrte auf eigener Vormacht, die es allein in einem restaurierten Deutschen Bund gewährleistet sah. Die Regenten der deutschen Mittelstaaten hielten an ihrer Autonomie fest und stützten sich auf antipreußische Ressentiments ihrer Bevölkerung. Die preußischen Hochkonservativen betrieben Fun-

damentaloppositlon gegen ihre eigene Regierung, von der sie verlangten, »die Vermischung der deutschen Einheit mit der deutschen Revolution« zu korrigieren. Sie scheuten sich nicht, mit den auswärtigen Gegnern gemeinsame Sache zu machen. Das Zarenreich drohte mit militärischer Intervention. England und Frankreich sympathisierten ebensowenig mit dem Konzept der Nationalversammlung wie mit einer preußisch-deutschen Lösung, die auf der Initiative der Berliner Regierung aufbaute.

Die preußische Deutschlandpolitik, auf äußeren Machtzuwachs und innere Stabilisierung unter begrenzt modernen Vorzeichen angelegt, zog, als sie Ende 1850 scheiterte, auch die doppelte Niederlage nach sich. Dem äußeren Verzicht folgten das Ende der reformkonservativen Gegenrevolution in Preußen und die Wende in die Reaktion. Doch der totale Wechsel fand nicht statt. Die gemäßigt konstitutionellen Verhältnisse in Verfassung und Recht wurden gleichsam eingehegt und trockengelegt, indem sie in der politischen Praxis einen reaktionären Kurs übergestülpt erhielten. Das politische Leben wurde überwacht, bevormundet und zensiert, ideologischer Druck ausgeübt, Opponenten wurden verfolgt.

Bismarck hat später die Grundlinie der Deutschlandpolitik Brandenburgs wieder aufgenommen. Er konnte sie unter ganz anderen, günstigen inneren und äußeren Bedingungen schließlich in einer äußerst flexiblen, alle Vorteile erkennenden und souverän nutzenden Weise verwirklichen. Auf Brandenburg verwiesen hat er freilich nicht. Selten gerecht im Urteil über Vorläufer, hat er den General in seinen Memoiren sogar als Kommißkopf abgewertet. Es paßte jedoch vor allem in die sich nach 1870 rasch ausbreitende nationalliberale und konservative Bismarekorthodoxie, die Reichsgründung als autonomen Akt preußischer Staatskunst zu präsentieren, statt einen Wegbereiter zu erwähnen, der, um den Ausweg aus der Revolution zu finden, sich von ihr auch inspirieren ließ. Prof. Canis lehrt an der Humboldt-Universität Berlin.

Von unserem Autor erschien dieser Tage auf der Grundlage der ND-Artikelserie die Broschüre »Die Verlorene Zukunft. Skizzen zu einer Geschichte des deutschen Kommunismus« (8 DM); zu bestellen über die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Sternwartenstr 31, 04103 Leipzig, Fax.- (0341)96 85 31

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