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Wie im Chicago der 30er Jahre

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Die Kriminalität ist hoch. Kürzlich wurde das Büro für Autovermietung »Treff« auf eine besonders brutale Art ausgeraubt. Drei junge Männer, 17, 19 und 20 Jahre alt, lauerten der Kassiererin auf und zwangen sie, am Abend in die Firma zurückzukommen. Dort schoß der jüngste den Wächter, den er persönlich kannte,

kaltblütig in den Kopf. Die Kassiererin mußte Kasse und Panzerschrank öffnen. Die Raubmörder nahmen sie mit, erschossen sie später in einem Wald und ließen sie dort liegen. Die Polizei hat zwei der Täter verhaftet, der dritte ist bekannt.

Chicago der 30er Jahre? So einfach ist es nicht. Der Siebzehnjährige ist der Sohn aus erster Ehe des ehemaligen Besitzers der Firma, Vladimir Kovacevic, der mit Spitznamen Treff hieß. Kovacevic war vor einem Jahr erschossen worden. Der Sohn war unzufrieden mit dem Geld, das er von seiner Stiefmutter bekam. Einer der Direktoren der vielen Nebenfirmen von Treff war der junge Marko Milosevic, der Sohn des jugoslawischen Präsidenten.

Die Mörder dieses Treff wurden nie gefunden. Ebenso unaufgeklärt blieben andere Fälle: die Hinrichtung des Chefs der serbischen Polizei, Radovan Stojicic, nach Mafia-Art (in Anwesenheit seines Sohnes in einem italienischen Restaurant im Stadtzentrum) oder die von Bora Todorovic, Generalsekretär der Partei JUL, die an der Regierung beteiligt ist. Todorovic wurde eines Morgens vor seinem Büro, als er aus dem Auto stieg, von einer tödlichen Pistolenkugel getroffen.

Dem Durchschnittsbürger droht solches freilich nicht, es sei denn, er ist zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und gerät in den Kugelhagel zwischen zwei sich befehdende Banden. Trotzdem sind Kriminelle hoch angesehen. Einer Untersuchung unter Oberschülern zufolge genießen die Herren der Unterwelt, Räuber, Drogendealer, Schmuggler, Kriegsgewinnler, die sich alle gerne auch als gute Patrioten ausgeben, weitaus höheres Ansehen als Professoren oder Offiziere.

»Was hast du von deinem Studium, wenn dein Wissen nicht bezahlt wird?« fragt ein Student seine Mutter, Chefanästhesistin in der Universitätsklinik.

Mit allen Überstunden verdient sie kaum 4000 Dinar, also 500 Mark.

Die meisten Menschen sind allein mit dem Überleben beschäftigt. Aber einer kleinen Schicht geht es sehr gut. Das sieht man an den Autos. Die neuesten Modelle aller Marken haben die Fußgänger von den Gehsteigen verdrängt, weil die Stra-ßen für den Verkehr längst zu eng geworden sind. Luxusrestaurants, Moderevuen, Discos und Nachtklubs sind gut besucht. Private Geschäfte bieten jeden Luxus an, freilich zu Preisen, die noch höher sind als in Westeuropa.

Zu erklären, wie das möglich ist, würde eine lange Analyse fordern, aber der Ausgangspunkt steht außer Zweifel: Zuerst die Raubzüge und Kriegsgewinne während des Bürgerkrieges, danach die Sanktionen der internationalen Gemeinschaft haben Privilegierten die Möglichkeit geschaffen, durch Schmuggel reich zu werden, sehr reich. Manche sind Dollarmillionäre. Sie ziehen andere, die sie brauchen, ihre Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte, ihre Klempner und Automechaniker, die Tanzlehrerinnen ihrer Töchterchen und die Trainer ihrer Söhne, mit sich in den Wohlstand und bezahlen sie in Mark. Und die Bauern, die ihre Waren auf dem grünen Markt verkaufen, haben in schweren Zeiten ohnehin nie wirkliche Probleme. Über die anderen zwei Drittel der Bevölkerung kann man nur sagen: der Rest ist Schweigen.

»Wir haben hier weder Sozialismus noch Faschismus«, erklärt todernst ein Student der Volkswirtschaft, »Wir haben eine Kleptokratie.«

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