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  • Politik
  • Daniil Granin zum 80. Geburtstag

Grübelei und Mut

  • Leonhard Kossuth
  • Lesedauer: 4 Min.

Das schönste Geburtstagsgeschenk hat er sich selbst bereitet - den Roman »Abende mit Peter dem Gro-ßen«. Seit Jahrzehnten sind Peter und seine Stadt in Granins Werken gegenwärtig. So ist sein Essay »Zwei Gesichter« (1968) nicht nur eine Interpretation von Puschkins »Ehernem Reiter«, sondern zugleich ein Nachdenken über Herrscherwillen und Willkür, Genie und Götzentuni, Unterwürfigkeit und Selbstbehauptung, über das Verhältnis zwischen Staatsmacht und Bürger, künstlerischer Vieldeutigkeit und machtorientierter Zensur... Der Roman über Peter, eben erst fertiggestellt, kann frühestens Ende 1999 erscheinen, aber er wird gewiß das Werk eines Autors sein, den eigene Lebenserfahrung veranlaßt hat, über solche Probleme nachzudenken.

Als kritischer Schriftsteller hat Granin schon mit den ersten übersetzten Romanen DDR-Leser für sich gewonnen, die von sozialistischen Idealen motiviert waren, dabei aber zunehmend auf Widersprüche stießen: »Bahnbrecher« (1954) und »Dem Gewitter entgegen« (1962). Heute sind diese Werke aus vielen Bibliotheken verschwunden, zum Teil von Trivial-Konfektion verdrängt. Was aber schrieb die Zeitzeugin Brigitte Reimann in ihren soeben herausgegebenen Tagebüchern unter dem Datum vom 2. März 1964? - »Hingerissen von Granins >Dem Gewitter entgegen<. Vergesse darüber meinen Kummer und bin verrückt vor Ehrgeiz, ein so aufregendes Buch zu schreiben.«

Selbst Kriegsteilnehmer, mit eigener Erfahrung vor Leningrad, hat Granin (mit Ales Adamowitsch Autor des »Blockadebuchs« 1977/81) seinen schwierigen Weg zu den Deutschen künstlerisch reflektiert. Die »Schöne Uta« (1969, dt. in »Garten

der Steine«) markierte dabei sein Ringen um eine die Traditionen von Heinrich Heines Reisebildern erneuernde Form viele Jahre, ehe er den Heine-Preis der DDR erhielt. Granins problemorientierte Prosa (»Der Gelehrte und der Kaiser«, »Ein seltsames Leben«) machte ihn hier zu einem Lieblingsautor intellektueller Leser; er selbst nutzte jede Gelegenheit zu Gesprächen mit Anna Seghers, Konrad Wolf, Ernst Busch, Heiner Müller, Christa Wolf... Ein Treffen mit Wolf Biermann löste Wetterleuchten bis in den Verlag Volk und Welt aus.

Granins Zugewinn an Souveränität äu-ßerte sich darin, wie seine Gestalten bei der Wiederbegegnung mit ihrer Vergangenheit vordergründige Wahrheiten in Frage stellen. Die Novelle »Unser Bataillonskommandeur« (1968) erschien in der moskaufernen Zeitschrift »Ural«, als Buch lange nicht. Die Widmung, die Granin mir in die DDR-Ausgabe von 1970 schrieb, spiegelt das Grollen von Moskaus

Ideologie-Oberen: »Danke für dieses Buch, wir beide wissen, was es mit ihm auf sich hat...«

Vollends ins Zentrum von Auseinandersetzungen geriet Granins Roman »Sie nannten ihn Ur« (1987) - gewidmet dem Genetiker Timofejew-Ressowski, der mit sowjetischem Paß trotz Faschismus-Diktatur in Berlin geforscht hatte. Die BRD-Lizenzausgabe lag schon vor, als die fertig gedruckte DDR-Auflage monatelang liegenbleiben mußte: Gegner des Buches hatten sich hinter^ Erich Honecker versteckt.

Als Kriegs- und Blockadezeuge auch in Westdeutschland häufiger Gast, also mit der Welt des Kapitals vertraut, stand Granin nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dennoch vor ungeahnten Problemen (»Das hat man uns nicht gelehrt«). Für seinen Endzeitroman »Unser werter Roman Awdejewitsch« (1991) hatte ihm Leningrads Parteichef Romanow den grotesken Prototyp geliefert. Jelzins Präsidialrat, dem anzugehören Granin sich die Sicht von der »Kapitänsbrücke« versprach, hat zumindest sein Bild von Herrschern über Rußland bereichert. Zu neuen Dimensionen als Romancier fand er mit »Flucht aus Rußland« (1994), Schauplatz für zwei integre Wissenschaftler, die im Kalten Krieg zwischen

die Räder sowohl von antikommunistischer Hysterie in den USA als auch von KGB-gestütztem Dogmatismus geraten; auf dem Prüfstand steht - zumal nach dem Scheitern vieler Hoffnungen - die Frage nach dem Sinn gelebten Lebens ...

Im Frühjahr 1999 bringt Volk und Welt ein weiteres Werk Granins heraus: »Das Jahrhundert der Angst«. Der deutsche Titel (russ.. »Angst«) verspricht eher ein Abrechnungsbuch, indessen geht es in einem umfassenden historischen Sinne um politische, philosophische, literarische, autobiographische Reflexionen zwar auch um die Frage, wie Angst durch den Stalinismus instrumentalisiert worden ist, aber ebenso um Angst allgemein. Granin zieht Beispiele aus der Weltliteratur heran, geht bis zu biblischen Vorgängen zurück. Um einen Hauptzug von Granins Schaffen zu definieren, würde ich einen Bogen schlagen von seiner Auffassung des Eugen im »Ehernen Reiter«, der zum MENSCHEN wird, als seine »wahnwitzige Furcht« in Wahnsinn, ja Rebellion umschlägt, zur Episode des Strafgerichts über den Satiriker Sostschenko im neuen Buch, als dieser - statt Selbstkritik zu üben - gegen seine Demontage durch das Politbüro und dessen Chefideologen Shdanow aufbegehrt.

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