Werbung

Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Sebastian Haffner im Alter von 91 Jahren gestorben

Außenseiter und Querdenker

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 5 Min.

Sebastian Haffner

Foto: dpa

Der Mann, der am 2. Januar in Berlin verstarb, gehörte zu den Zeugen des Jahrhunderts und zu jenen Deutschen, die in ihm nach eigenen Vorstellungen und Kräften wirken und Geschichte mitgestalten wollten: Sebastian Haffner Der 1907 in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches geborene Jurist und Publizist verließ 1938 aus politischen und persönlichen Gründen das in den Griff rassistischer Machthaber geratene Deutschland. Großbritannien wurde seine Wahlheimat. Später wird er sagen, daß er im Lande, das ihn als Gast aufnahm, ein »englischer Patriot« geworden sei. Ungeachtet dessen, daß er mit anderen deutschen Emigranten, die gleichfalls ihre antinazistische Haltung bewiesen hatten, bei Kriegsbeginn zeitweilig interniert wurde.

Unter den deutschen Flüchtlingen war und blieb er, der die Herausgabe einer in London erscheinenden deutschsprachigen Zeitung angeregt hatte, ein Au-ßenseiter Seine radikalen Vorschläge, wie die Alliierten nach dem Siege Deutschland behandeln sollten, hatten wohl dazu beigetragen. Schon in jenen Jahren, in denen er dem Journalistenstab des liberalen »Observer« als Korrespondent angehörte, übte er eine Rolle, die er später wiederholt einnahm: die des Querdenkers, der seine Meinung, gelegen oder ungelegen, sagte und druckte und sich durch das Echo nicht beirren ließ.

So haben ihn auch im Nachkriegsdeutschland Millionen kennengelernt, die ihn am Tische des Fernseh-Frühschoppens argumentieren hörten - zu einer Zeit, da das Geschwafel heutiger Talkshows noch nicht in Mode gekommen war und Ansichten, überzeugend öder nicht, lioch begründet werden m

der 1948 britischer Staatsbürger geworden war, hatte sich 1954 mitten im sich verschärfenden Kalten Krieg nach Westberlin versetzen lassen. Der Ort entsprach seinem Wunsch, selbst einen antisowjetischen Kampfplatz einzunehmen. Das entfernte ihn von seinen Londoner Auftraggebern und führte ihn - folgerichtig - in die Dienste der »Welt«. Des Blattes, das zum westdeutschen Flaggschiff eines Kurses wurde, der das Risiko des Dritten Weltkriegs nicht scheute.

Diesen aber fürchtete Haffner Und er begann, eigene Entscheidungen zu überprüfen. Als Kolumnist bei »Stern« und »konkret« wurde er weithin bekannt und von da an auch einer der umstrittensten Publizisten der Bundesrepublik. Sein Wirken richtete sich vor allem auf die

Stabilisierung des Friedens in Europa, dem er alle anderen Optionen nachordnete. Er sah die Spaltung Deutschlands nicht als das letzte Wort der Geschichte, was ihn nicht hinderte, sich für die Anerkennung der DDR einzusetzen. Er war und blieb durch und durch ein bürgerlicher Mann, der allerdings auch keine Beklemmungen kannte, den Sozialismus »solide und vernünftig« zu nennen.

Haffner wurde einer der nicht so zahlreichen, anfänglich erbittert befeindeten geistigen Wegbereiter der »neuen Ostpolitik«. Sein 1968 publizierter 20-Punkte-Vorschlag für die Außen- und Innenpolitik der Bundesrepublik umfaßt Forderungen, die den Koalitionspartnern der ? * gegenwärtigen Bundesregierung in.ihrem Programm gut anstehen würden. Sie –reichten vomÜbergang von Militärbündnissen zu einem europäischen Sicherheitssystem und der Schaffung einer »kleinen Berufsarmee« über eine Strafgesetzgebung gegen Friedensgefährdung bis hin zur kostenlosen Volks-und Hochschulbildung sowie zur Schaffung von Kinderhorten und -gärten «für alle«.

Haffner ist seit den Jahren der Emigration immer wieder als Buchautor hervorgetreten. Sein »Jekyll and Hyde«, 1940 in London und erst kurz vor seinem Tode in deutscher Übersetzung im Verlag 1900 erschienen, stellte in der Nachfolge anderer Publikationen deutscher Hitlergegner den Versuch dar, ein fundiertes Bild vom faschistischen Deutschland und davon zu geben, was von seinen Machthab ern zu erwarten war

Seit der Mitte der 60er Jahre erschie-

nen in rascher Folge aus Haffners Feder neben einer Biographie von Winston Churchill (1967) vor allem Bücher zur deutschen Geschichte. Bei seiner Beschäftigung mit ihr fand er Legenden im Übermaß. Gegen sie empfand er so etwas wie eine Allergie. Und so steht er in der Tradition verdienstvoller deutscher Publizisten, die bereits in der Weimarer Republik gegen die Verherrlichung der Hohenzollern, der Reichseinigung, von Kriegen und verlorenen Siegen angetreten waren. Haffners bevorzugte Themen bildeten die preußische bzw deutsche Historie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts und insbesondere Ereignisse, die er als verpaßte Wendepunkte der deutschen sowie der europäischen Geschichte ansah. Bemerkenswert »Die verratene Revolution. Deutschland 1918/19« (1970), in der er den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als einen Auftakt »zu den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten« bezeichnete. Denen, die nach 1949 beschworen, daß »Bonn nicht Weimar« sei, hielt er entgegen, daß die Deutschen dieser Zeit noch nicht entronnen wären und die Untat des 15. Januar 1919 noch immer »wie ein tödlicher Laserstrahl« in die deutsche Gegenwart hineinwirke. Und immer und immer wieder hat er gegen die zählebig sich haltende Präventivkriegsthese polemisiert, die den Überfall Nazideutschlands auf die UdSSR 1941 bis heute rechtfertigen soll.

Zu Haffners meistgelesenen Büchern gehören seine »Anmerkungen zu Hitler« (1978). Es wurde als Paperback in der alten BRD auch durch staatliche Bildungszentralen verbreitet. Es schließt mit einer Klage darüber, daß die älteren Deutschen die Erinnerung an Hitler verdrängen, die meisten Jüngeren »rein gar nichts mehr von ihm wissen«. Der Publizist, der nie beanspruchte, Historiker zu sein, mit seinen Bücher aber Vorstellungen und Bilder von der Vergangenheit weithin wachzurufen verstand, praktizierte allerdings mitunter einen Umgang mit Fakten, der selbst wieder Legenden Vorschub leistete. Das brachte ihm die Kritik von Historikern ein. Dessen ungeachtet bleibt es sein Verdienst, dazu beigetragen zu haben, die Geschichte für eine bessere Gegenwart aufzuschließen.

Haffners Art, in deutsche Vergangenheit zurückzublicken, war 1 unbequem. Sie' enthielt, mochte man seinen meist einprägsam verkürzt vorgetragenen Darstellungen zustimmen oder nicht, Herausforderungen die Menge. Vor allem aber fehlte ihnen jede beschauliche Unverbindlichkeit. Ohne ins Inquisitorische zu geraten, entließ er seine Leser doch immer mit der Frage, wie sie es selbst mit der deutschen Geschichte halten und sich in deutscher Gegenwart bewegen. Begabt mit geschichtlicher Phantasie, die freilich mitunter ins Galoppieren geriet, beförderte er das Nachdenken über mögliche Alternativen in der Geschichte. Jenen, die offen oder versteckt dem Grundsatz folgten »Weiter so, Deutschland«, warf er den Fehdehandschuh hin. Mit Sebastian Haffners Tod fehlt den Deutschen ein demokratisches Urgestein von seltenem Typus.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal