Identisch bis zum Leberfleck am Arm

José Saramago spielt lustvoll mit dem Motiv des Doppelgängers

  • Benjamin Jakob
  • Lesedauer: 3 Min.
Tertuliano Máximo Afonso ist Geschichtslehrer in einer Fünf-Millionen-Stadt irgendwo in Südeuropa. Ein gelangweilter Typ Ende Dreißig, geschieden, allein lebend, in lustloser Beziehung zu einer Bankangestellten. Ein Schulkollege empfiehlt eines Tages ein Video, nur so, zur Unterhaltung. »Wer streitet, tötet, jagt« - ein Film, »absurd und blödsinnig«. Tertuliano schaut ihn nachts, er gähnt, aber plötzlich schreckt er hoch. Weil ein Schauspieler - eine Nebenfigur - ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. »Ein kurzer Angstschauder lief ihm über den Rücken. Er betrachtete sich im Spiegel wie jemand, der sich im Spiegel betrachtet. Wenn dieser Typ, der den Rezeptionisten gespielt hat, hier wäre, dachte er aufgewühlt, wenn er hier vor diesem Spiegel stünde, wäre das Spiegelbild, das er von sich selbst sähe, dieses hier.« Gleich am nächsten Tag holt sich Tertuliano weitere Streifen mit demselben Akteur, es gibt sie reichlich; der Mann ist mal Bankkassierer, mal Pfleger oder Theaterproduzent. Tertuliano sucht den Doppelgänger, er findet ihn. Er verfolgt, er beschattet sein Alter Ego. Und ist schockiert: Die beiden Männer sind absolut identisch! Beim Vergleich (nackt, in einer einsamen Hütte) sehen sie »zwei Leberflecke auf dem rechten Unterarm, einen über dem anderen, eine Narbe unter der linken Kniescheibe ...« Wer ist nun wer? Wer das Original und wer die Kopie? Neugierig kommt man sich näher - und lernt einander nach Kräften hassen. »Bei alledem bleibt mir nur ein Zweifel. Und der wäre, ob wir wohl, weil wir gleich sind, auch im selben Augenblick sterben ...« Lustvoll spielt José Saramago (Jahrgang 1922) mit dem uralten Motiv des Doppelgängers: Mit seinem Roman schuf der portugiesische Nobelpreisträger abermals eine Parabel über die in der modernen Gesellschaft lauernden Bedrohungen und Gefahren. »Jeder von uns fühlt sich einzigartig«, sagte er im Interview. »Wenn also plötzlich einer auftaucht, der genauso aussieht wie ich, dann nimmt er mir den Platz weg, der mir gehört.« In Portugal, Spanien und Brasilien führte »Der Doppelgänger« zu Recht lange die Bestsellerlisten an. Glanzvoll ist die Sprache dieses Romans, verspielt des Meisters Ironie, schonungslos genau der Blick. Typisch Saramago. Bedächtig, fast umständlich schreibt er, weit ausholend, das Thema umkreisend. Absichtsvoll leistet er sich Bandwurmsätze und detailverliebte Szenen. Er dreht und wendet die Worte, erst absichtslos scheinbar, spielerisch, bis sie ihren Sinn gewandelt haben. Eigenwillig nutzt er Modi und Tempi der Verben, der Konjunktiv kippt in den Indikativ: So durchdringt Wunschdenken und Unmögliches die Realität, aus Vergangenem wird bedrückende Gegenwart. Komisch: Wie man die vier Worte »Es ereignete sich nichts« auf Seiten ausdehnen kann. Und wie sich der Held in immer irrwitzigere Verwicklungen verstrickt. Kunstvoll schürt der Autor die Spannung - um dann mit immer wieder überraschenden Wendungen zu schockieren. So wächst das Grauen aus dem Alltag des Kleinbürgers empor. Auch mit der Institution des allmächtigen Erzählers treibt der Meister sein Spiel: »Das Privileg, das wir genießen, nämlich zu wissen, was bis zur letzten Seite dieser Erzählung alles passieren wird, ausgenommen dem, was noch dazu erfunden werden muss, erlaubt es uns vorwegzunehmen, dass der Schauspieler ...« etc. pp. Dies ist kein Roman für ungeduldige Leser. Doch wer den verwinkelten Gedankengängen des ewig unschlüssigen Protagonisten folgen mag, kommt bald auf seine Kosten. José Saramago: Der Doppelgänger. Deutsch von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag. 384 S., geb., 22,90 EUR.

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