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Bitte keine Liebe in Maßen
»Am Anfang«: Tristan Brusch wird ein neuer Volksbarde
Nach »Am Rest« und »Am Wahn« folgt »Am Anfang« als Abschluss dieser Trilogie, die Tristan Brusch und seine Musik in den vergangenen Jahren auf ein gänzlich neues künstlerisches Niveau gehievt hat. Den spielerisch-süßen Popstar im Kleinen, den er noch in den 2010er Jahren mit Songs wie »Zuckerwatte« und »Fisch« zu verkörpern versuchte, hat er längst hinter sich gelassen und ist stattdessen über die Jahre zu einer Art dunkelromantischem Volksbarden avanciert.
Sein mitunter pathetischer Gestus mag dabei antiquiert erscheinen – wie die Reinkarnation eines Scott Walker oder Jacques Brel im 21. Jahrhundert. Doch genauso gut kann man dagegenhalten, dass die Meta-Themen von damals heute immer noch die gleichen sind: etwa »Lieben und Geliebtwerden«, wie Brusch wohl nicht ganz zufällig in »Geboren um zu sterben« singt, dessen Titel sein Wirken gleich noch um eine weitere existenzialistische Komponente ergänzt.
Allen großen Gesten zum Trotz verfällt Brusch dabei in keinem der insgesamt zwölf Songs der allseits lauernden Authentizitätsfalle. Und das, obwohl er sich selbst immer wieder zur Spielfigur seiner Songs macht. »Mach dir um mich bloß keine Sorgen, Tristan«, singt er gleich zu Beginn des Eröffnungstracks »Grundsolider Schläger«. Auch das abschließende »Tristan und Elise« spielt ganz bewusst mit selbstreferenziellen Anleihen.
Das Album der Woche. Weitere Texte unter dasnd.de/plattenbau
Doch »Tristan« ist eine widersprüchliche Projektionsfläche: Ein Meer an Identitäten. In »Danke dass du nicht aufhörst mich zu lieben« mimt das lyrische Ich einen Ich-bezogenen Sadisten par excellence. Die Unfähigkeit zu lieben scheint ihm geradezu eingeschrieben zu sein: »Dass du nicht aufhörst mich zu lieben/ Obwohl ich nicht aufhören kann dir wehzutun«. Mit der pianogetragenen Ballade »Lange Nacht«, einem der Highlights des Albums, wird die Liebe dann zum Lebenswegweiser: »Sie zeigt dir den Weg den du zuhause nennst«.
Immer wieder leuchtet Brusch auf diesem Album in die dunklen Ecken des menschlichen Seins, wagt Perspektivwechsel und bewegt sich in den Zwischenräumen, statt sich für einfache Auflösungen komplizierter Konstellationen zu entscheiden. »Wenn es keine Ambivalenzen gibt, macht es mich depressiv«, sagte er vor zwei Jahren anlässlich der Veröffentlichung von »Am Wahn«. Diesem Credo bleibt er treu.
Musikalisch bewegt er sich weiterhin an der Schwelle zwischen Chanson und Kammerpop. Die meisten Tracks sind spärlich instrumentiert, um dann im richtigen Moment zum großen Crescendo anzusetzen. Dass sie der Gegenwart entspringen, verrät einzig die glasklare, jegliche Retro-Anleihen vermeidende Produktion. Doch vom Songwriting her könnte das Album genauso gut aus den Jahren 1967 bis 1979 stammen.
Auch der vollständige Verzicht auf ironische Brüche wirkt einigermaßen anachronistisch – und wohltuend zugleich. »Für die Liebe in Maßen habe ich kein Talent«, singt Tristan Brusch an einer Stelle des Albums, und man darf getrost froh sein, dass das so ist. Denn in Zeiten des Dating-Portal-getriebenen Liebeskontrollwahns hält er der Gesellschaft ihren Spiegel vor. Ob sie bereit ist hineinzublicken, wird sich noch zeigen müssen.
Tristan Brusch: »Am Anfang« (Wasser & Licht/Sony)
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