Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Zafer Senocak: »Gefährliche Verwandtschaft«

Alles offen ohne Mauer

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Irmtraud Gutschke

Ein Puzzle, bei dem die Hälfte fehlt. Die Frage ist: Sind die Puzzlesteinchen wirklich nicht mehr da, oder wurden sie versteckt? »Du erzählst ohne Zentrum. Deine Geschichten wirken verschwommen, deine Charaktere entgleiten dir«, so wird der Ich-Erzähler im Roman von seiner Freundin kritisiert. »Du mußt die Sprache aufnehmen, sie konzentrieren, auf einen Punkt zuführen, an dem du stehst, auf deinen Punkt.« Der Ich-Erzähler, der ein bißchen wie der Autor ist, gibt zu, daß ihm dieser »Mittelpunkt«, dieser Standpunkt fehlt. »Ich hatte keine Identität.« Aber vielleicht, so überlegt er, suchen die Leute deshalb nach Identität, weil ihnen Geborgenheit fehlt.

Zafer Senocak wurde 1961 in Ankara geboren, ist in Istanbul und München aufgewachsen, seit 1990 lebt er in Berlin.

Sein Ich-Erzähler, der auch ein Schreibender ist, kam als Sohn einer türkischjüdischen Familie 1956 in München zur Welt, spricht selber kaum Türkisch. Ein Deutscher, der als Türke behandelt wird und sich nirgendwo zu Hause fühlt. »Vielleicht bin ich als Schriftsteller deshalb erfolglos geblieben, weil ich meine Herkunft nicht genügend zur Schau gestellt habe«, meint er »Ich hätte ein zweisprachiger Autor sein können und dadurch interessant. Aber ich bin nicht zweisprachig. Ich hätte ein Jude sein können mit direktem Erbdraht zum Holocaust. Aber das bin ich auch nicht richtig. Auch wenn meine Mutter deutsche Jüdin war «

Durch Zuordnungen werden Menschen kenntlich - und dagegen wehrt sich der Erzähler, weil es nicht seiner Erfahrung entspricht und weil es zu einfach wäre. Eigentlich ist er ja in einer Situation, in der viele jüngere Leute hierzu-

lande sind: Sie leben irgendwie gar nicht schlecht, fühlen sich dabei aber nicht sonderlich gut, legen Wert auf Ungebundenheit, haben natürlich keine Kinder Und wenn man ihnen sagt, ihnen fehle der Halt, der Sinn, der Wertzusammenhang, dann tippen sie sich an die Stirn: Was wollt ihr eigentlich von mir? Das Problem ist nur- Was kann ein Mensch in solcher Verfassung anderen Wesentliches mitzuteilen haben?

Vielleicht die Erfahrung von Fremdheit

- dies hat in der europäischen Literatur doch bereits Tradition. Oder die Skepsis gegenüber jeglichen festen Vorstellungen

- die wird vom Autor nicht nur mehrfach verbal betont, sie wird vom Leser bei der Lektüre auch selbst erlebt. Denn das Buch ist vielschichtiger, als auf den ersten Seiten erwartet. Als dem Erzähler von einem Münchner Anwalt eine silberne Schatulle mit den Tagebüchern seines Großvaters väterlicherseits übergeben wird, vermu-

tet man iür den Roman ein bewährtes Ilandlungsinuster- Ein Geheimnis ist aufzuklären. Denn der Großvater, ein Mitstreiter von Mustapha Kemal, genannt Atatürk, ist 1936 auf rätselhafte Weise zu Tode gekommen, kurz bevor er zusammen mit der türkischen Mannschaft zur Olympiade nach Berlin reisen sollte. Wurde er ermordet? Ist er politisch in Ungnade gefallen? Oder beging er doch Selbstmord'' 1 Aber warum?

Zafer Senocak hätte daraus ein Stück Spannungsliteratur machen können, aber er teilt wohl jenes Mißtrauen, das er den Vater des Ich-Erzählers äußern läßt: In solcherart Geschichten würden alle Rätsel aufgelöst. Über Geheimnisse jedoch »haben wir keine Sprache«. War es zu mühsam, die Geheimnisse aufzuklären oder sollen sie gehütet werden? Daß man immer noch zu wenig über die deutsche, die türkische, die jüdische Geschichte in ihrer Verquickung weiß - dieser Gedanke läßt einen beim Lesen nicht los. Der Autor könnte uns Nachhilfeunterricht geben, weil er aber nicht belehren will, deutet er nur an. Zum Beispiel, was die Situation der Juden in der Türkei und das Verhältnis der Türkei zu Hitler-Deutschland betrifft. Da sieht sich der Erzähler in »gefährlicher Verwandtschaft«, wie der Titel

sagt. »Ich bin ein Enkel von Opfern und Tätern«, meint er, doch glaube er nicht, daß Schuld übertragbar sei. Von einer Deportationsliste ist die Rede, die der Großvater als 25jähriger zusammengestellt hat. 500 armenische Namen. Dabei hatten die verschiedenen Völker - Türken, Griechen, Armenier, Juden, Kurden, Tscherkessen, Bosniaken, Albaner, Assyrer, Georgier - über Jahrhunderte im Osmanischen Reich zusammengelebt...

Denkanstöße, nicht nur was türkische Geschichte, auch was deutsche Gegenwart betrifft: Als der Erzähler kurz nach dem Fall der Mauer aus den USA nach Deutschland zurückkam, wirkte das Land auf ihn wie ein Gerichtssaal, »in dem ununterbrochen angeklagt und gerichtet wurde«. Ihn erschreckt der aufflammende Haß auf die Türken, von denen eine Frau aus Dahlem sagt, sie seien schlimmer als die Juden. Der Fall der Mauer scheint Ängste geweckt zu haben, offensichtlich hatten sich die Menschen in ihrem Schatten auch geschützt gefühlt. »Berlin war jetzt eine nach allen Seiten offene Stadt. In dieser Stadt kann es sehr windig werden...«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!