- Politik
- Brigitte und Marcel - Golzower Lebenswege im Internationalen Forum des Jungen Films der Berlinale
Die Zeit - Linie oder Kreislauf
Wollte man die Zeit abbilden, für welche geometrischen Figuren müßte man sich entscheiden? Gerade Linien, plötzlich abbrechend und anderswo weiterlaufend - oder Kreise? Auch der neueste Film der Golzower Lebensläufe »Brigitte und Marcel« gibt darauf keine Antwort. Er begnügt sich damit, das merkwürdige Ineinander von Fortlaufen und Abbrechen zu zeigen. Chronos, die Zeit. Langandauernd. Der Chronist als ihr Beobachter, außerhalb stehend. Außerhalb wovon? Auch die Art des Anschauens ist dem Wandel unterworfen. Das läßt die meisten Chroniken enden, wenn sich die Zeit ändert. Seit 1961 begleitet Winfried Junge nun schon die »Kinder von Golzow«. Sie bekommen inzwischen Enkel. Ein Netz von Beziehungen verwebt sich.
Ursprünglich sollten es ja sozialistische Musterporträts werden. Behütetes Leben, das jedem seine Chance gibt. Stimmte schon bis 1989 nicht. Brigittes Lebensmöglichkeiten waren von Anfang an eingeschränkt. Nach der achten Klasse bereits verläßt sie die Schule, arbeitet in einem Geflügelzuchtkombinat. Monotonie und Tristesse fressen die Träume früh. Dazu kommt eine Herzkrankheit, mit 17 das erste Kind. Brigitte ist nicht stark, sie zwingt das Schicksal nicht, unterliegt und stirbt mit 29. Der Sohn Marcel, ohne Vater, wächst bei der Großmutter auf, früh ohne Illusionen auch er. Ein kühl distanzierender Dokumentarist hätte vermutlich schnell den Anschluß an diese unspektakulären und sich nach außen abschließenden Lebensläufe verloren. Wen interessieren schon solch profane 'Biographien? Aber Barbara und Winfried Junge vermögen es, sich einzu-
fühlen in diese scheinbare Traumlosigkeit. Und entdecken eine ungeahnte Kraft. Die des Duldens, des Aushaltens.
Der 15. Film der Golzow-Reihe, und immer noch kein Ende. Natürlich ist das Faszinosum dieser Filme die Zeit. Der Blick geht weit zurück. Was wandelt sich? Fast alles. Was bleibt gleich? Ebenfalls fast alles. Und wir erfahren, daß alle Antworten vorläufig, alle Fragen absolut sind. Merkwürdiges Ineins von Linien und Kreisen. Junge springt filmisch zwischen den Jahrzehnten hin und her. Blickt zurück, wie die Eule der Minerva, wenn es zu dämmern beginnt. Und man versteht immer noch nicht. Wie Entscheidungen fielen, warum sie unterblieben. Man ist ratlos, sieht fremdes Leben fast lückenlos dokumentiert. Das, was einen Menschen zu dem macht, was er ist, verrät es uns nicht.
Junges Einfühlungsvermögen trägt die »Kinder von Golzow« durch die Zeitenwechsel. Fast vier Jahrzehnte persönliche Nähe. Und ein ungeheures Maß an Ausdauer Des Filmers und der Gefilmten.
Nach dem Tod Brigittes begleitet Junge deren Sohn. Auch er verläßt nach der achten Klasse die Schule. Unheilvolle Wiederholungen? Marcel wird Schlosserlehrling, und mittenhinein kommt die Wende. Sorge, er könnte wie so viele die Balance verlieren. Abschluß der Berufsausbildung ohne feste Arbeitsstelle. Aber Marcel duldet nicht nur wie seine Mutter, sondern lernt zu kämpfen.
Was wiederholt sich, was ist neu? Junge hütet sich, zu antworten. Chroniken sind lang und machen weise. Was immer gleichbleibt, ist Außenwelt. So erstaunlich des klingt. Natürlich sind die Autos heute andere, natürlich gibt es viel neue Farbe und auch Freiheit. Freiheit von etwas und für etwas. Aber die Rituale ähneln sich bis zum Verwechseln. Ob Jugendweihe oder Bundeswehrgelöbnis, das Außen weiß vom Innen wenig. Das bleibt. Und in der Spanne von Innen und Außen das kreisende und vorwärtsstolpernde Leben.
Junges Chronik definiert Alltag. Inmitten der großen Themen, der großen Wenden wirkt das Biographische subversiv. Es bringt den pathetischen Anspruch einer Gesellschaft auf sein lebbares Maß zurück. Alltag, das ist nicht weniger als die Kreisläufe von Geburt, Schule, Schmerz, Beruf, Freude, Liebe, Krankheit, Trennung und Tod. Kein geringer Anspruch für eine Chronik. Junge weiß, sie muß immer vorläufig und unvollständig bleiben. Im Extrakt: gelassene Bescheidenheit. Authentisch, nie beliebig.
18.2., 14 Uhr, Delphi-Filmpalast und 21.2.. 19 Uhr, UllBabulon
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