Pervertierung der Moral
Bomben als psychologischer Ersatz für versäumten Aufstand gegen Hitler
Prof. Dr. med Dr. phil Horst-Eberhard Richter
Der Leiter der Deutschen Sektion der IPPNW (Internationale Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung) war bis 1992 Direktor des Zentrums für psychosomatische Medizin an der Universität Gießen, der 76jährige ist Autor zahlreicher Bücher
ND-Foto: Burkhard Lange
? Sie bestreiten damit die Behauptung, es gehe darum, ein neues Auschwitz zu verhindern?
Das ist einfach eine ungeheure Geschichtsfälschung. Hitler hat viele andere Länder überfallen, und es wurden sechs Millionen Juden ermordet. Hiermit ist jeder Vergleich absurd. Nach Mitteilung der CIA sind auf Seiten der Kosovo-Albaner 3000 Menschen ums Leben gekommen. Das ist sehr schlimm. Aus den gleichen Quellen hören wir aber auch, daß 30 000 Kurden durch das türkische Militär getötet wurden. Nie hat die NATO das als Argument benutzt, in der Türkei einzugreifen.
Ich bin schon lange in der Friedensbewegung aktiv Gerade aus meiner Generation haben sich dort sehr viele Menschen versammelt, die sich geschworen haben, eine Remilitarisierung der deutschen Politik zu verhindern. Diese Menschen wissen, was der deutsche Militarismus zweimal in diesem Jahrhundert angerichtet hat. Ihnen kann man nicht vorwerfen, daß sie vergessen würden, was die Nazi-Geschichte uns auferlegt.
? Wenn man nicht bombardierte, würde man sich auch schuldig machen, sagen die Kriegsbeßirworter.
Man muß die Vorgeschichte dieses Krieges bedenken. Es hätte vieles getan werden können, um den sich verschärfenden Konflikt in Kosovo mit gewaltfreien Mitteln zu befrieden. Dazu wurde immer wieder gemahnt. Wir als Friedensbewegung haben den Westen aufgefordert, Rugovä zu stärken, der eine gewaltfreie Lösung für Kosovo angestrebt hat. Aber er ist im Stich gelassen worden, bis die UCK die Macht in Kosovo an sich gerissen hat.
? Viele, mit denen Sie früher auf Kundgebungen der Friedensbewegung zusammen gestanden haben, befürworten jetzt den Krieg. Was denken Sie dabei?
In meiner Altersgruppe sehe ich wenige, die sich gewendet haben. Die Konvertiten stammen überwiegend aus der Gruppe der enthusiastischen radikalen Revolutionäre der 68er Bewegung. Diejenigen, die sich mit dem «Lernziel Solidarität« engagiert hatten, so war der Titel meines Buches, denen es also zuallererst um eine sozialpolitische Unterstützung der sozial Schwächeren und Benachteiligten ging und geht, die sehe ich durchweg auf der Seite der Kriegsgegner Es gab und gibt in der gesellschaftlichen Linken einerseits Leute, die sich ganz stark über ein Anti, über ein Feindbild motivieren - das hat sich dann gewandelt von Anti-USA über Anti-Saddam zu Anti-Milosevic. Und es gibt Leute, die sich mehr über ein Pro motivieren. Das Pro-Motiv bedeutet Verständigung, Versöhnungs-
bereitschaft, und diese Haltung ist weniger anfällig für abrupte Wendungen. Die pubertäre Vaterrebellion, wie Herbert Marcuse sie mal genannt hat, trägt nicht so weit.
? Aber die Ablehnung von Kampfeinsätzen deutscher Soldaten war größer, als auch Bundestag und Regierung noch dagegen waren. Gibt es zu viel Grundgehorsam in der Gesellschaft?
Die Umfragen machen von Woche zu Woche deutlicher, daß inzwischen eine Mehrheit einen sofortigen Stopp der Bombardierungen wünscht, auch im Westen. Dennoch sind wir mit einem Phänomen konfrontiert. Wenn man ein kriegführendes Land wird, dann gibt es einen Loyalitätszwang, dann ist es für viele ein Akt des Verrats und der Unanständigkeit, der eigenen Regierung und den eigenen Soldaten in den Rücken zu fallen. Das hat eine lange Tradition und ist in jedem Land etwas Fluchwürdiges. Es ist ein moralischer Druck, ein moralischer Imperativ, der zur Pervertierung der Moral führt. Pazifismus wird plötzlich zur Schäbigkeit, zur Feigheit - es ist eine Umkehrung der Werte.
? Haben Sie eine Empfehlung an den Parteitag der Grünen?
Jede und jeder muß selbst abwägen, ob für sie oder ihn die eigene Überzeugung mehr zählt als der Wunsch, die Regierungsfähigkeit zu erhalten.
Fragen: Jürgen Reents
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