- Politik
- Juni 1919: Selbstversenkung der deutschen Flotte
Der Mythos Scapa Flow
Sommeranfang im ersten Friedensjahr nach dem Ersten Weltkrieg: Die schottische Bucht von Scapa Flow bei den Orkney-Inseln bietet ein dramatisches Schauspiel. Unter dem Befehl des Konteradmirals Ludwig von Reuter (1869-1943) kommt es zur Selbstversenkung der deutschen Hochseeflotte. Dieses spektakuläre Ereignis vor 80 Jahren wurde von der konservativ-nationalistischen Publizistik als »Ehrenrettung der deutschen Flotte« gefeiert. Den Mythos bestärkten vor allem zwei Publikationen, zum einen das 1921 erschienene Buch »Scapa Flow - das Grab der deutschen Flotte« aus der Feder des kaiserlichen Flaggoffiziers Ludwig von Reuter, ein um Rechtfertigung bemühtes Erinnerungsmachwerk, das bis 1945 mehrere Auflagen erfuhr. Zum zweiten folgten ein halbes Jahrhundert nach den dramatischen Ereignissen in der schottischen Bucht, Stützpunkt der britischen
Schlachtflotte, der »Grand Fleet«, die Memoiren von Friedrich Rüge: »Scapa Flow 1919. Das Ende der deutschen Flotte«. Der Autor war 1919 als junger Torpedobootsleutnant an der Versenkung beteiligt, 1956 wurde er als Vizeadmiral erster Inspekteur der Bundesmarine.
Nun liegt mit der Studie von Andreas Krause, gleichsam zum 80. Jahrestag, ein dritter Titel zum Thema vor. Die sorgfältig recherchierte Arbeit basiert auf der Auswertung einschlägiger deutscher und britischer Aktenbestände und bietet eine Reihe neuer Fakten. Sie zeigt vor allem, in welchem Maße die kaiserliche Kriegsflotte zum Gegenstand der machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Siegermächten vor und während der Pariser Friedenskonferenz wurde. Allerdings vermag auch Krause das »Trauma von 1918«, d.h. die Matrosenbewegung, mit der die deutsche Novemberrevolution begann, so recht nicht zu deuten.
Nach dem am 11. November 1918 zwischen Deutschland und den Allierten ge-
schlossenen Waffenstillstand waren sämtliche deutschen U-Boote auszuliefern sowie zehn Linienschiffe, “sechs Panzerkreuzer, acht kleine Kreuzer und 50 Zerstörer der neuesten Typen abzurüsten und in neutrale bzw. Häfen der alliierten Mächte zu überführen, Bei Nichterfüllung wurde mit der Besetzung Helgolands gedroht. Unter dem Vorwand, die Ausführung der Abrüstung prüfen zu müssen, forderte die britische Flottenleitung die Überführung der deutschen Schiffe in einen englischen Hafen. ,
Am 19. November 1918 lief der »Überführungsverband« aus und ging am 21. November im Firth of Forth vor Anker. Weil angeblich geeignete neutrale Häfen nicht zur Verfügung standen, wurde zwischen dem 22. und 26. November 1918 der »Überführungsverband«, nun als »Internierungsverband«, nach Scapa Flow dirigiert. Die britische Absicht, die deutschen Schiffe zur Verstärkung der eigenen Seemacht zu verwenden, war unverkennbar. In der Bucht von Scapa Flow begann für die Mannschaften eine entbehrungsreiche Zeit mit harten psychischen und physischen Belastungen. Einen Ausweg boten offiziell organisierte Rücktransporte nach Deutschland. Diese wurden nun in zunehmendem Maße vom Stab des Admirals Reuter und den von der Re-
volution einst verjagten und mittlerweile auf die Schiffe zurückgekehrten Offizieren genutzt, um »unzuverlässige Elemente« abzuschieben, die Tätigkeit des Obersten Soldatenrates zu unterminieren und die Rote Garde zu beseitigen, die sich auf dem Flaggschiff »Friedrich der Große« gebildet hatte. Die möglichst vollständige Heimsendung revolutionär gesinnter Matrosen und Heizer war zudem eine entscheidende Voraussetzung für das.Gelingen der insgeheim seit langem vorbereiteten Versenkung der Schiffe am 21. Juni 1919 dem Tag, an dem ursprünglich die Frist, die der deutschen Regierung für die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages gesetzt worden war, ablief.
Die bisherige Auffassung, Admiral v. Reuter habe nichts von der unerwarteten Verlängerung der Unterzeichnungsfrist (28. Juni) durch die Alliierten gewußt und deshalb am 21. Juni den Befehl zur Versenkung gegeben, um die Schiffe nicht in »Feindeshand« fallen zu lassen, wird jetzt durch Krauses Buch erschüttert. Gleiches trifft auf die bisher geltende Meinung zu, Reuter habe ohne Verständigung mit dem Chef der deutschen Admiralität gehandelt., Daß die Engländer gar nichts von den Versenkungsvorbereitungen bemerkt haben sollen, zieht Krause mit Recht in Zweifel. Sie sahen die deutschen Kriegsschiffe
wohl lieber in der Tiefe des Meeres, als die Beute eventuell doch noch mit den übrigen Siegermächten teilen zu müssen. Die Wracks ruhten auf dem Grund der Bucht von Scapa Flow, bis 1956 Marinestützpunkt; schließlich hoben englische Schrottfirmen die meisten von ihnen und machten damit ein profitables Geschäft.
Die NS-Propaganda weckte noch einmal die Erinnerung an Scapa Flow, als es zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, in der Nacht vom 13. zum 14. Oktober 1939, dem von Kapitänleutnant Günter Prien kommandierten U-Boot U 47 gelang, in die für Unangreifbar gehaltene Bucht einzudringen und das dort liegende veraltete Schlachtschiffs »Royal Oak« (Stapellauf 1914) zu versenken. In einem 1940 erschienenen Buch hieß es: Priens »Leistung und Waffentat... löschte auch mit einem Schlage alle düsteren Erinnerungen an diesen britischen Flottenschlupfwinkel aus, in dem 1919 zahlreiche, entwaffnete Einheiten der ehemaligen kaiserlichen Flotte ... geschleppt worden waren, bis sie der Heldengeist des Admirals von Reuter versenken ließ«.
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