Gabriele Feyler aus Sachsen leistet seit vier Jahren Sozialarbeit an den Brennpunkten des postkommunistischen Russland
Michael Bartsch
Lesedauer: 8 Min.
Morgens fünf Uhr im Mai taucht die aufgehende Sonne über Moskau die einstige Welthauptstadt des Kommunismus noch einmal in ein magisches rotes Licht, bevor der harte Existenzkampf für die einen und der Kampf um die Millionen für die anderen beginnt. Aus dem 13. Stockwerk eines Wohnhochhauses im Stadtteil Preßnja bietet die Stadt mit ihren Kathedralen im Zuckerbäcker-Stil ein scheinbar harmonisches Bild. Gabriele Feyler ist schon aufgestanden und steigt aus der Schlafetage der Maisonette-Wohnung die Treppe zu Küche und Stolowaja hinab. Die 3000 Euro Monatsmiete, auf die sie die relativ zentrumsnahe Wohnung heruntergehandelt hat, könnte sie nie allein aufbringen. Der Siemens-Konzern bezahlt sie ihrem Lebensgefährten Heiko Richter, der leitend in der Moskauer Niederlassung angestellt ist.
Die übliche kurze Meditation und der Spruch zum gemeinsamen Frühstück fallen heute aus. Um sechs Uhr muss Gabriele bereits am Bahnhof eintreffen, um zwei neunzehnjährige junge Männer aus dem nordkaukasischen Beslan abzuholen. Noch am selben Tag sollen sie nach Deutschland weiterfliegen. Gabriele hat sie in eine Thüringer Einrichtung der katholischen Arbeitnehmerbewegung KAB vermittelt, damit sie ein Vierteljahr lang etwas lernen. So lautet die offizielle Begründung. Eigentlich aber geht es darum, die beiden Osseten vor dem Wehrdienst zu bewahren, der in dieser Krisenregion einem Todesurteil nahe kommt. »Reiche Eltern kaufen ihre Kinder frei, die beiden hatten nicht das Glück.«
Ruslan und Seslan treffen so frisch und ungestüm in der Wohnung ein, als hätten sie nicht zwei Tage im Zug gesessen. Und als hätten sie nicht im September 2004 an ihrer Schule das Massaker miterlebt, bei dem durch Terroristen und russische Soldaten fast 400 Menschen starben, darunter 155 ihrer Mitschüler. Die beiden strotzen vor Kraft und Gesundheit, verwandeln das Bad in eine Schwimmhalle, verzehren meterdicke Brotkanten und schließen sofort herzlich Freundschaft. Aber ihre spontane Wildheit lässt auch das explosive Potenzial in der tschetschenischen Grenzregion erahnen. »Bestien« seien die Terroristen gewesen, verfinstert sich Ruslans Blick, aber auch Zar Putin glaubt er kein Wort. Seine Osseten und die angeblich mit den Tschetschenen sympathisierende Minderheit der Inguschen würden schon mit Messern aufeinander losgehen, so groß sei der Hass, und ein schlimmer Krieg drohe. Kleinlauter werden die beiden, als Gabriele nach dem vereinbarten Eigenfinanzierungsanteil für die Flugtickets fragt. Es ist in Beslan doch kein Geld gesammelt worden. »Dann zahlt es eben Heiko.« Der Lebensgefährte muss wieder einmal mit 500 Euro einspringen. Das Gehalt, das Siemens dem exzellent russisch sprechenden ehemaligen Moskau-Studenten zahlt, macht es möglich. Und für sich brauchen die beiden sehr wenig. Der Kühlschrank füllt sich erst, wenn wieder einmal Gäste übernachten.
Was treibt eine deutsche Frau von knapp 50 Jahren, sich in Russland als eine Art freie Wohltäterin zu betätigen? Wenige kannten Gabriele Feyler zu DDR-Zeiten, als sie in Dresden noch in der Tourismusbranche arbeitete und sich kirchlich, aber nicht amtskirchlich engagierte. Schwankend zwischen Selbstzweifeln und apodiktischen Urteilen erlebte man sie schon damals, vor allem aber von innerem Engagement getrieben. Anfang der 90er Jahre studierte sie noch einmal - Sozialarbeit. Bald stand sie mit an der Spitze des Sächsischen Frauenforums, arbeitete in der Katholischen Arbeitnehmerbewegung. Mit dem Nebenjob als Touristenführerin in der Dresdner Kathedrale war es vorbei, als sie wegen einer Nazidemo auf dem angrenzenden Theaterplatz spontan die Glocken läutete. Gemeinschaftsorientierte Siedlungsprojekte am Dresdner Stadtrand und vor allem Jugendarbeit schob sie an. Mit Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft pilgerte sie in mehreren Ferienetappen den Jakobsweg nach Spanien. Die Saat trägt Früchte. Einige von ihnen bildeten in diesem Jahr den Kern jener von den Medien vielbeachteten deutschen Gruppe, die Gabriele für einen Arbeitseinsatz in Beslan gewinnen konnte. An die Menschen von Beslan hat sie seit dem Terroranschlag ihr Herzblut verschwendet. Vor dem Engagement in Moskau und Beslan aber stand die Trennung von ihrem Mann, die Begegnung mit dem sinnesgleichen Heiko und der Abschied vom »langweiligen« Sachsen. Zunächst zu Projekten in den USA und in Sri Lanka, bevor Heiko 2001 das Angebot in Moskau erhielt. Sprachlich kein Problem für jemanden wie Gabriele, die sich englisch, französisch, polnisch, bulgarisch und eben auch russisch mehr als nur verständigen kann.
Zweihundert Meter von ihrer Wohnung entfernt liegt die neugotische katholische Kathedrale von Moskau. Ihre Rastlosigkeit und Respektlosigkeit vor Hierarchien mussten in der Gemeinde bald auffallen. Das selbstbewusste Auftreten beeindruckte auch den aus Polen stammenden Bischof Tadeusz Kondrusiewicz. Noch im Jahr ihrer Ankunft bot er ihr das Amt der Caritasdirektorin einer Diözese an, die bis zum Ural reicht. Ohne festes Gehalt und ohne festen Vertrag. Die Deutschen genießen in Russland einen guten Ruf, ungeachtet der Schrecken der Weltkriege. Beliebt mag sich Gabriele trotz ihrer geradezu altruistischen Hilfsbereitschaft dennoch nicht gemacht haben, als sie Nichtstuer und eingeschleuste Geheimdienstleute des KGB entließ. Prostituierten zu helfen, deren Zahl in Moskau in die Zehntausende geht, wurde ihr untersagt. Ende 2004 saß über Nacht plötzlich ein farbloser männlicher Nachfolger auf ihrem Stuhl. »So sind die Strukturen hier«, wettert sie. »Keiner will wirklich Verantwortung übernehmen.«
In einem Land, das keine Aufklärung kannte und nie eine Demokratie erlebt hat, bestehe ein riesiges Emanzipationsdefizit, ein Mangel an selbstbewusster Individualität. Gabrieles Eifer, ihre Empathie, ihr Organisationstalent drohen manchmal daran zu scheitern. Auch in Beslan, wo der Bürgermeister heute so und morgen anders rede und die Männer sie oft auf ein Sexualobjekt reduzieren wollen. Gabriele und Heiko versuchen hier die »Therapie sociale« des Franzosen Charles Rojzman anzuwenden, deren begeisterte Anhänger beide sind. Diese Deeskalationsstrategie spielt in den Gesprächen vor Ort eine wichtige Rolle. »Sei gut zu dir selbst, dann kannst du auch gut zu anderen sein«, bringt es Gabriele geradezu biblisch auf den Punkt.
Überall lauern das alte System und altes Denken. Im Moskauer Hausflur täglich erlebbar in Gestalt der Deschurnaja, die wiederum unter Kuratel einer Art Blockwärterin steht. Nichts darf ihrem wachsamen Auge entgehen. »Bolschoi Brat«, die russische Big-Brother-Version im Fernsehen, ist tägliche Realität. Die Aufpasser haben wieder Oberwasser, wo aus Angst vor dem Terror kein Theater und kein Supermarkt mehr ohne flughafenähnliche Kontrollen betreten werden kann. Und wenn so viele Unbekannte und erst recht zwei solch verdächtige Schwarzschöpfe wie Ruslan und Seslan Gabrieles Wohnung aufsuchen, kann es sich eigentlich nur um eine Terrorzentrale handeln. Der Vermieter wird in dieser Situation plötzlich zum Verbündeten. Ihn interessieren nur die 3000 Euro, die nicht jeder zahlen kann.
Konspirativ geht es schon manchmal zu, wenn beim spätabendlichen gemeinsamen Essen noch das Handy klingelt. Dann klappen auch beim unerschütterlichen Heiko die Mundwinkel herunter. Einmal ruft eine Mutter aus Beslan, einmal eine junge Tschetschenin an. Es geht um Besuchsvisa für Deutschland, meistens für ihre Kinder. Statt eines beziehungspflegenden Dialogs mit Heiko brütet dann Gabriele bis weit nach Mitternacht mit den Frauen über Antragsformularen. Oft verbringt sie den nächsten Vormittag mit auf dem Konsulat. Das sei nur westliche Selbstberuhigung, sagt sie, wenn Beslan-Kinder per Spende auf einen noblen Touristenurlaub irgendwo in die Toskana geschickt werden. »Ich kann darin nicht den geringsten Zusammenhang zu den wirklichen Problemen erkennen, die vor Ort gelöst werden müssen«, poltert sie los. Der Orden der »Schwestern von Mutter Theresa« wird nun formal der Projektträger für die Ausbildung Jugendlicher und die Einzeltherapie in Beslan, hinter der wiederum ein privater amerikanischer Sponsor steht. Dazwischen als Organisatorin, Vermittlerin und Sozialarbeiterin Gabriele Feyler.
Auch Dschachongyr aus Usbekistan ist ein »Zögling von mir«, wie sie mit selbstironischem Unterton bemerkt. Den freundlichen Zwanzigjährigen hat sie während der Caritas-Arbeit von der Straße aufgelesen. Für ein Vierteljahr hat sie ihn schon in einer deutschen Behinderteneinrichtung untergebracht. Er hat prächtig Deutsch gelernt, möchte nun eine Ausbildung als Landwirt in Deutschland absolvieren und dann in seiner Heimat in dem gewünschten Bauernberuf arbeiten. Dschachongyr begleitet uns bis zur Gogol-Bibliothek und hört beim »Musikalischen Salon« zu. Der Salon ist so etwas wie eine Wiederentdeckung gutbürgerlicher Traditionen, ein Ausdruck der sich zaghaft entwickelnden Zivilgesellschaft in Russland. Zwei hervorragende Gitarristen sind da. Gabriele ist mit ihren deutschen Gästen eingeladen worden, etwas zum Programm beizutragen. »Wir haben nur eine Chance, wenn wir die steife Atmosphäre etwas auflockern!« Also wird nach kurzer Probe mit Gabi am Klavier gejazzt und improvisiert.
Auch ein anderes, für russische Verhältnisse ungewöhnliches Ereignis findet nicht ohne Gabriele statt. Erst nach dem Beslan-Massaker haben sich auch die Verwandten der Opfer des Terroranschlags und des Giftgas-Polizeieinsatzes im Moskauer Nord-Ost-Musicaltheater formiert. Im Hotel »Kosmos« veranstalten sie ein so genanntes »Festival«, das flammende Reden in ein großartiges musikalisches Programm verpackt. Auch Schachweltmeister Gari Kasparow ist dabei. Gabriele kennt die Initiatorin Lydia Iwanowna-Grafowa seit längerem und spricht mit ihr. Über den Tenor der meisten Reden aber ereifert sie sich sogleich wieder. »Väterchen Zar Putin, schütze uns - so klingt es in einem fort!« Erst als Irina Hakamada, Vorsitzende der neuen Russisch-Demokratischen Partei, auftritt, wird sie hellhörig und verschafft sich über deren Pressesprecher sofort Kontakt. Hakamada redet für russische Verhältnisse Erstaunliches. »Der Terror ist nicht durch Rache zu überwinden, sondern indem man die Menschen liebt!« Und: »Der Staat wird uns nicht helfen, wir müssen uns selbst bewegen. Wir können freie Menschen werden!«
Es sieht nicht nach Freiheit aus in Moskau zwischen Existenzkampf, altem Denken, Sicherheitswahn, Korruption und der infantilen Jagd nach westlichem Konsumramsch. Statt des Rechtsstaates herrscht ein Preissystem zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei, Bodyguards und Auftragsmördern. Aber bei vielem, was ein besseres Russland von unten gestalten könnte, ist Gabi dabei. Endlich formieren und vernetzen sich die Initiativen gegen Menschenhandel, von dem schätzungsweise 100000 russische Frauen betroffen sind.
Eine heute exotisch anmutende altruistische Art von Lebenshunger, der im Echo und im Fortschritt der anderen seine tiefste Befriedigung findet, treibt Gabriele an. »Eigentlich mache ich das alles für mich selbst.« Russland lässt sie nicht mehr los. »Der Westen leidet an einem Mangel an Erkenntnis.« Hier, in der Rückkehr zu frühkapitalistischen Verhältnissen, zeigten sich in aller Wildheit und Offenheit die immanenten Widersprüche und Kontraste des Systems. Gabrieles Aufforderung zum Abschied: »Schreib, sie sollen herkommen und sich das ansehen. Und schreib, der Westen soll am Osten aufwachen!«
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