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  • Politik
  • Serie: DEUTSCHES DOPPEL - Wirtschaftswunder in West und Ost /7

Die Zaubertüten von Erhard und Apel

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor 50 Jahren wurde Deutschland gespalten, entstanden zwei deutsche Staaten, deren Gesellschaftssysteme konträrer nicht hätten sein können und die sich doch stets aufeinander bezogen. Für ND beleuchten ost- und westdeutsche Autoren die Zeit deutscher Zweistaatlichkeit.

Ludwig Erhard

Fotos: ND-Archiv

Zum Auftakt der Plandiskussion 1964 besucht Erich Apel (mit Halbglatze) das Funkwerk Köpenick

Sie waren sich ganz sicher: Das passende Wirtschaftssystem war gefunden. Im Osten schwor man seit 1948 auf die Planwirtschaft, im Westen auf soziale Marktwirtschaft. Jeder glaubte aus den Fehlern der Vergangenheit die einzig richtige Lehre gezogen zu haben.

Was hatten die Marktwirtschaft schon gebracht?, fragte Fritz Selbmann 1947: Inflation, Weltwirtschaftskrise, Aufrüstung, Weltkrieg. Es habe sich herausgestellt, dass die freie Wirtschaft nicht imstande ist, eine gleichmäßige Versorgung sicherzustellen. Um Arbeit und Brot für alle zu sichern, musste ein alternatives Wirtschaftssystem her: Planwirtschaft.

Auch an Rhein und Ruhr glaubte man, das Erfolgsrezept gefunden zu haben: Nicht Kapitalismus pur der Weimarer Republik konnte der Anknüpfungspunkt sein, nicht die zentrale Wirtschaftslenkung des »Dritten Reiches«. Denn: »Die historische Linie führt vom Kapitalismus zum sozialen Elend und von dort zum Kollektivismus, oder, anders ausgedrückt: Ein rücksichtsloser Laissez-faire-Liberalismus zerstört die Gesellschaft, und eine zerstörte Gesellschaft sucht das Heil in totalitären Systemen.« So fasste der Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpcke 1946 zusammen, was im Westen bald herrschende Meinung werden sollte. Erfolg könne, man nur haben, wenn man beide Extreme vermied. Das Rezept hieß: soziale Marktwirtschaft.

Der Begriff stammte von einem anderen Theoretiker des neuen Weges: Alfred Müller-Armack. Sein 1946 geschriebenes Buch »Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft« wurde zum Standardwerk. Der Mann, der Röpckes und Müller-Armacks Reformvorstellungen »mit Einsicht und Fortune«, wie sein Biograph Volker Hentschel schreibt, in die Tat umsetzen sollte, hieß Ludwig Erhard. Er nutzte die Währungsreform vom Juni 1948, um daraus eine Wirtschaftsreform zu machen.

In (Ost-) Berlin begann man fast zur gleichen Zeit, die Planwirtschaft umzusetzen: Halbjahrplan, Zweijahrplan. Das Modell kam aus der Sowjetunion. Für deutsche Kriegsgefangene und deutsche Spezialisten war es bereits fern der Heimat erlebte Wirklichkeit, so für Erich Apel, Maschinenbauingenieur und bis 1944 Mitarbeiter Werner v. Brauns, nunmehr Oberingenieur in einem Kraftwerk am Wolchow.

Der neue Plan der Ostzone legte keinen besonderen Wert, seine sowjetische Abstammung publik zu machen. Er nannte sich »Deutscher Zweijahrplan«. »Gegenüber den Kolonialmethoden des Marshall-Planes hat der Deutsche Volksrat den Kampf um den deutschen Plan proklamiert«, verkündete Walter Ulbricht im Frühjähr 1948. Das Attribut zum Zweijahrplan verriet es: Man schaute auf die Konkurrenz im Westen. Selbmann warf den Fehdehandschuh ? »Wir werden bis zur letzten Maschine, bis zur letzten Produktionseinheit der volkseigenen Industrie durchplanen, und dann werden wir sehen, wer ist stärker- die geplanten volkseigene Industrie oder die nichtgeplante freie Marktwirtschaft.« Wie der Wettstreit ausgehen würde, daran gab es für Selbmann keinen Zweifel: »Natürlich ist die geplante Wirtschaft stärker, natürlich werden die Dinge dort, wo sie der Mensch mit seiner Vernunft anpackt, besser vorwärtskommen.«

Der Start verlief gut - in beiden Ländern. Allerdings nicht ganz so, wie man es sich erträumt hatte. So wurde auf dem Papier ein wenig nachgebessert - auf beiden Seiten. In der Bundesrepublik setzte man die Startposition vor Beginn der Währungsunion zu niedrig an. Um so höher fielen die Wachstumsraten für Erhards soziale Marktwirtschaft aus. In der DDR

»vergaß« man bei der Abrechnung des Zweijahrplanes die Preissteigerungen für Industriegüter heraus zu rechnen. So wurde nominelles zum realen Wachstum und Selbmanns Prophezeiungen über die Leistungskraft der Planwirtschaft bestätigt. Die reelen Ergebnisse des Zweijahrplanes waren dennoch um so beachtlicher, als in einem “ganz änderen Ausmaße als im Westen Reparationen geleistet werden mussten.

Dort kam es zwischen Erhard und dem Leiter der wirtschaftspolitischen Grundsatzabteilung in seinem Wirtschaftsministerium, Müller-Armack, zunehmend zu Differenzen. Erhard war mehr liberaler als sozialer Marktwirtschaftler, kein Mann der CDU-Sozialausschüsse. Müller-Armack dachte hingegen auch in den Kategorien der katholischen Soziallehre, was 1958 zu seinem Ausscheiden führte.

Differenzen über die richtige Wirtschaftsstrategie gab es in der zweiten Hälfte der 50er Jahre auch in der DDR. Seit Mitte der 50er Jahre waren sich Ulbricht und sein Wirtschaftsberater Wolfgang Berger einig, dass die Planwirtschaft sowjetischen Stils nicht das Zugpferd war, das die DDR-Wirtschaft gegenüber der Bundesrepublik auf Überholkurs bringen würde. Diese Auffassung teilte auch der damalige Minister für Schwermaschinenbau, der 1952 aus der Sowjetunion zu-

rückgekehrte Apel. Wirtschaftliche Reformen wurden andiskutiert und auch ein bisschen probiert. Fritz Behrens und Arne Benary genügten die ersten Schritte nicht. Sie wollten in der Wirtschaft weniger Staat sehen, plädierten für mehr Selbstständigkeit der Betriebe und größere Verantwortung der Belegschaften.

Die Reformdiskussion wurde auf Geheiß Ulbrichts, der sie aus politischen Gründen zu fürchten begann, abgebrochen. Behrens und Benary verloren ihre Positionen; ebenso Selbmann. Durch überzogene Zielstellungen schlitterte die DDR-Wirtschaft mit dem alten Lenkungssystem in eine Existenzkrise, die durch den Mauerbau 1961 zwar nicht wirtschaftlich gelöst, aber politisch eingedämmt werden konnte. Wirtschaftlich musste ein Weg noch gefunden werden. Aber wie?

Die Mehrheit im Politbüro machte es sich einfach: Durch Disziplin und Maßhalten den Plan erfüllen! Was eine Expertengruppe unter Willi Stoph an »Vervollkommnung des Wirtschaftsmechanismus« ausarbeitete, war zwar etwas mehr, aber bestenfalls die »kleine Lösung« für das Wirtschaftsproblem der DDR.

Dahingegen war Ulbricht nun gemeinsam mit Berger für die große Lösung:

struktureller Wandel.. ; und., .Wissenschaft;,, lich-technischer Aufstieg. Apel übernahm 1963 die Staatliche Plankommission und begann die Zentrale der »Kommandowirtschaft« zu reformieren: Weniger Vorgaben von oben, mehr Rechte für die WB, die zu »sozialistischen Konzernen« und für die VEB, die sich am Gewinn orientieren sollten. Das bedeute aber nicht.so der neue Chef der Plankommission, »dass alle Entscheidungen der Wirtschaftsführung nur unten..., unabhängig vom Gesamtzusammenhang des Volkswirtschaftsplanes getroffen werden«.

Ende Juni 1963 veranstaltete Apel eine Wirtschaftskonferenz, auf der die Reform ihren Namen erhielt: Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Ab Januar 1964 hatte sich das NÖSPL bzw. NÖS in der Praxis zu bewähren. Die »aufgeklärte Planwirtschaft« steigerte tatsächlich Produktion und Produktivität in der Industrie der DDR bis Ende der 60er Jahre; seit Dezember 1965 allerdings ohne den durch Freitod

verschiedenen Erich Apel. Eines ermöglichte das NÖS jedoch nicht: das Einholen oder Überholen der Bundesrepublik.

In der Bundesrepublik dauerte die Nachkriegskonjunktur länger als in der DDR. Doch allmählich erschöpften sich auch im Westen die vorrangig extensiven Aufschwungkräfte. Mitte der 60er Jahre kündigten sich wirtschaftliche Probleme an; die »guten Geister«, die anderthalb Jahrzehntelang das Wirtschaftswunder ermöglicht hatten, verbündeten sich gegen das Wirtschaftswachstum. Als die Bundesbank stabilitätspolitische Maßnahmen gegen die Inflation ergriff, drückte dies erstmals ernsthaft die Konjunktur, führte zur Arbeitslosigkeit, insbesondere im neuerdings strukturschwachen Steinkohlebergbau. Eine höhere Inflations- und eine niedrigere Wachstumsrate hatte es in der Bundesrepublik bis dahin noch nicht gegeben. Doch Erhard, dessen zweites Kabinett im Oktober 1965 vereidigt wurde, neigte zu Sorg- und spätere Konzeptlosigkeit, was bei einigen Politikern der CDU/CSU Besorgnis hervor rief. Franz-Josef Strauß und Rainer Barzel schickten an ihn mehrere »streng vertraulich« mahnende Briefe, die auf einer von Müller-Armack ausgearbeiteten Lageeinschätzung beruhten. Die Zeit des technisch-industriellen »catching up« des extensiven Wirtschaftswachstums also - sei vorbei und komme auch nicht wieder. Erhard wollte dies nicht einsehen; so begann ein Intrigenspiel gegen ihn. Im November 1965 trat er entnervt zurück.

Auf der Grundlage des im Herbst 1965 für die Sondierungsgespräche zwischen CDU und SPD ausgearbeiteten Sachprogramms entstand eine von einer großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger getragene neue Wirtschaftsstrategie: das Konzept der Globalsteuerung. Konjunkturelle Bewegung solle durch eine antizyklische Politik des Staates auf ein ausgewogenen Maß reduziert, Arbeitslosigkeit in Grenzen gehalten werden. Die sozialen Auswirkungen industriestruktureller Wandlungen waren vom Staat abzufedern. Vor allem der SPD-Politiker Karl Schiller stand bis zum Ende der 60er Jahre für diese »aufgeklärte Marktwirtschaft«.

Vergleicht man den Weg der beiden deutschen Staaten vom selbstsicheren Start mit einem neuen Wirtschaftskonzept bis hin zu dessen Reformierung, dann lässt sich weder die Unterschiedlichkeit der eingeschlagenen Lösungswege leugnen, noch die Ähnlichkeit der Probleme, als es auf der Straße des wirtschaftlichen Erfolgs nicht wie gewohnt weiter ging. Bei der Überwindung der alten und der Gestaltung der neuen Wirtschaftskonzepte wurden sich die beiden Wirtschaftssysteme in den 60er Jahren sogar ähnlicher als sich das Erhard und Selbmann je hatten träumen lassen: Apel liebäugelte mit »sozialistischen Konzernen« in der Planwirtschaft und Schiller verfasste ein mittelfristiges »Drei-Stufen-Programm (1967-70) zur Anpassung und Gesundung des deutschen Steinkohlenbergbaus«...

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