Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • »Goethes Gespräche« - die berühmte »Biedermannsche Ausgabe« ist wieder verfügbar

Was die Zeitgenossen von ihm dachten

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Werner Liersch

Wohin vor lauter Goethe-Biografien nach 250 Jahren Goethe? Aber die aufregendste Biografie haben wohl noch immer seine Zeitgenossen geschrieben. Auf jeden Fall die materialreichste. Als der 14-jährige Goethe sich im Mai 1794 um Aufnahme in die »Arcadische Gesellschaft zu Phylandria«, eine Art literarische Geheimgesellschaft junger Leute, bewarb, wandte er sich dazu an den Vorsitzenden 17-jährigen Ysenburg zu Bury und benannte als Referenz seinen gleichaltrigen Frankfurter Freund Karl Schweitzer. Die »Arcadier« waren sogleich des Klatsches voll. Schweitzer an Ysenburg: »29 Mai 1794. Ich lese mit größter Bestürzung Ihres Schreibens von diesem Freund. Attachieren Sie sich nicht an ihm um Gottes willen!«. Ysenburg an einen Jungliteraten: »16. Juli 1764. Ich erfuhr, dass er der Ausschweifung und

vielen anderen mir unangenehmen Fehlern, die ich aber nicht herzählen mag, sehr ergeben sei.«

Diesem frühen Zeitzeugnis der Zeitgenossen, mit dem die Biedermannsche Ausgabe von »Goethes Gesprächen« beginnt, sollten unzählige andere folgen. Mit den Jahren und dem Ruhm drängte es viele zu Goethe. »Schafft sie mir vom Halse«, sagte er manchmal zu seiner Umgebung. Der Mann, dem nachgesagt wird, die Menschen seiner Umgebung aufgesogen zu haben, verbrachte keinen kleinen Teil seiner Existenz damit, sich der Okkupation seiner Person zu erwehren.

Woldemar Freiherr von Biedermann, ein Goethe-Enthusiast aus dem späten 19 Jahrhundert, sammelte alle seiner Zeit bekannten Berichte über mündliche Äu-ßerungen Goethes, fasste sie als »Goethes Gespräche« zusammen und gab sie zwischen 1889 und 1896 in zehn Bänden heraus. Sie sollten als ein Anhang zu den »Werken« gelesen werden. Eckermann hatte die Idee eines »gesprochenen Goe-

the« vorgebildet. Doch nicht nur darin folgte Biedermann ihm. Schon Eckermann hatte an eine PR-Aktion gedacht. Alg Goethe und Cotta 1826 eine »Vollständige Ausgabe letzter Hand« verabredeten, unterbreitete Eckermann im Mai »Excellenz« die Idee, es könne den neuen Werken dienen, »wenn man ein Bändchen Ihrer trefflichsten Konversationen vorausschickte. Ich könnte bis auf den nächsten Herbst eine gute Abteilung von etwa 250 Seiten zusammenbringen, und zwar lauter bedeutende wichtige Sachen, die Alles aufregen sollten ...«

Biedermanns Sammlung wurde zum »Biedermann«, einem Standardwerk der Goethe-Literatur. Sein Sohn, Flodoard von Biedermann, setzte das Werk des Vaters fort und brachte zwischen 1909 und 1911 eine zweite, wesentlich erweiterte Auflage heraus. Sie bot nicht nur eine Menge neuen Materials. Flodoard von Biedermann erweiterte auch das Konzept und dehnte es auf alle aus persönlichem Umgang mit Goethe gewonnenen Zeugnisse aus. Flo-

doard von Biedermanns weitere Sammelarbeit führte zu keiner dritten Edition, obwohl er bei seinem Tode, 1934, ein druckfertiges Manuskript hinterließ. Der Germanist Wolfgang Herwig nahm die Arbeit in den 60er Jahren wieder auf, ergänzte das Material mit wesentlichen Stücken, brachte die Kommentierung auf heutigen wissenschaftlichen Stand und schuf in den Jahren von 1965 bis 1987 eine moderne Ausgabe des »Biedermann«, die nun als bezahlbare Taschenbuchpublikation vorliegt - eine der schönsten Leistungen im Goethe-Jahr.

Natürlich ist auch diese Biografie in Zeitzeugnissen eine subjektive Biografie. Jeder, der da zu Goethe kam, brachte seinen eigenen Charakter und seine eignen Interessen mit, ganz zu schweigen von der Begegnung mit dem Talent des Dichters zu sehr verschiedener Existenz. Einige seiner Hauptzeugen sind bemerkenswerter Weise die fragwürdigsten Gewährsleute. Bettina Brentano etwa, die in ihrer schwärmerischen Goethe-Verehrung nur zu gern Goethes Geliebte geworden wäre, kompensierte die nie aufgegebene Distanz des Dichters zu ihr durch eine Vielzahl erfundener Geschichten. Eckermann, in der neuen Ausgabe des »Biedermann« nicht mehr vertreten, achtete zwar seit seiner Ankunft in Weimar 1823 auf die Worte des Meisters, aber denn doch nicht so genau, dass er nicht später eine erhebliche Menge des angeblich Überlieferten herbeifabulieren oder aus fremden Aufzeichnungen herausschreiben musste.

Doch noch nicht das ist das eigentliche Problem seiner Überlieferung. Eckermann tilgte alles ihm disharmonisch Erscheinende bei Goethe und folgte beflissen den Zensurwünschen des Weimarer Hofes. Großherzog Carl Alexander versah ein Material, das Eckermann zur Grundlage des dritten Teils seiner »Gespräche« machte, an beinahe 200 Stellen mit einem »non publier«, das der »treue« Eckermann treulich befolgte. Er lieferte Kuschelklassik und manches Material zum Denkmal für einen »Dichterfürsten«.

Der Goethe-Kult und eine verengte Philologie haben die Lebenszeugnisse der Zeitgenossen zu oft nur als bloßen Steinbruch für die Goethe-Biografie behandelt und mit peinlicher Selbstverständlichkeit ihr Desinteresse an deren eigenständigen Schicksalen demonstriert. Eben noch wurde Ulrike von Pogwisch, die Schwester von Goethes unglücklicher Schwiegertochter Ottilie, bei der Veröffentlichung ihres Goethe-Briefwechsels mit der Bemerkung abgetan: »Ihre Nähe zu ihm macht sie uns erinnernswert«. Der »Biedermann« ist ein großes spannendes Dokument über Goethe hinaus.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.