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  • Politik
  • DAS JAHRTAUSEND der sieben Kränkungen / 14 (Schluss)

Kopernikus, Darwin, Freud und kein Ende in Sicht

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Die erste Kränkung: Durch Kopernikus wird der Mensch aus dem Mittelpunkt des Alls verdrängt

Es geht nicht nur ein Jahrhundert, sondern auch ein Jahrtausend zu Ende. Geographische Entdeckungen, industrielle, wissenschaftliche und soziale Revolutionen veränderten die Gesellschaft. Doch trotz Aufklärung kam es Ende des zweiten Jahrtausends zum größten Genozid in der Geschichte, dem NS-Holocaust. Ein Streifzug durchs Millennium sagt viel über unser Saeculum aus.

An der letzten Jahrtausendwende schien die Christenwelt noch in bester, göttlicher Ordnung: Die Erde, auf der der Mensch lebte, galt zugleich als Mittelpunkt des Kosmos. Zum »Ebenbild Gottes« erhoben, fühlte sich der Mensch seinen tierischen Mitgeschöpfen hoch überlegen. Zwar hatte er im Garten Eden ein Gebot des Herrn übertreten und dadurch seine Unsterblichkeit verloren. Doch dafür war ihm die Freiheit zuteil geworden, sein Leben selbst zu gestalten.

Jahrhunderte lang diente das christliche Welt- und Menschenbild als Stütze einer starren ständischen Sozialordnung, in der nur wenige etwas von ihrer vermeintlichen Gottebenbildlichkeit verspürten. Es zählt zu den unbestreitbaren Verdiensten der Naturwissenschaften, das geschlossene religiöse Denksystem des Mittelalters gesprengt und die Stellung des Menschen im Universum neu definiert zu haben. Den ersten Schritt auf diesem Weg tat 1543 der polnische Domherr Nikolaus Kopernikus. Er entfernte die Erde aus dem Mittelpunkt des Kosmos und stellte die Sonne dorthin. Damit nicht genug, degradierte er die Wohnstätte des Menschen zu einem gewöhnlichen Planeten, der um das ruhende Zentralgestirn kreiste. Anfangs wurde die .Heliozentrik nur als neue matheinatisehe Form der Himmelsbeschreiburig.wahrgenommen. Weder Giordano Bruno noch Johannes Kepler oder Galileo Galilei vermochten das neue System empirisch zu beweisen. (Das gelang erst 1838 dem deutschen Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel.) Aber auch ohne Beweise fürchtete das Heilige Offizium in Rom die philosophische Sprengkraft der heliozentrischen Idee und verkündete 1616, dass die Lehre von der Bewegung der Erde um die Sonne »irrtümlich im Glauben« sei. Inzwischen muss der Mensch sich sogar mit der Tatsache abfinden, dass er nicht einmal näherungsweise im Zentrum des Univer-

sums, sondern am Rande einer relativ kleinen, dezentral gelegenen Galaxiengruppe lebt.

War die »erste Kränkung des menschlichen Narzißmus«, wie Sigmund Freud die Tat des Kopernikus bezeichnete, eine kosmologische, hatte die zweite ihre Wurzel in der Evolutionslehre von Charles Darwin, die mit der Konstanz der biologischen Arten auch den göttlichen Schöpfungsakt bestritt. Kaum war Darwins Buch »Die Entstehung der Arten durch natürliche-.Zuchtwahl« 1859 erschienen, erklärten : yjele“ seiner Zeitgenossen; dass die darin geäußerten Ideen ihr »moralisches Empfinden gröblich verletzten«. Aber es kam noch schlimmer. 1871 reihte Darwin auch den Menschen in die Stammesgeschichte der Tiere ein und löste damit einen der größten ideologischen Grabenkriege der Geschichte aus, der bis heute andauert. Unglaublich, aber wahr: Im August dieses Jahres beschloss das »School Board of Education« im US-Bundesstaat Kansas, die Evolutionstheorie als Pflichtstoff aus den Schulen zu verbannen. Aber auch in der Amtskirche sitzt der Darwin-Schock noch immer tief. Zwar

ließ Papst Johannes Paul II. sich 1996 zu der Bemerkung hinreißen, dass die Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese sei. Allein den Gedanken an eine natürliche Herkunft von Geist und Seele verwarf er als »unvereinbar mit der Wahrheit«.

Die dritte Kränkung des Menschen, die so genannte psychologische, schrieb Freud sich auf die eigenen Fahnen. »Der Mensch, ob auch draußen erniedrigt, fühlt sich souverän in seiner eigenen Seele«, erklärte er 1917 mit Blick auf Kopernikus und Darwin. »Irgendwo im Kern seines Ich hat er sich ein Aufsichtsorgan geschaffen, welches seine eigenen Regungen und Handlungen überwacht.« Diesen Glauben habe die Psychoanalyse gründlich zerstört. Denn danach seien die meisten seelischen Vorgänge unbewusst und dem Ich nur durch eine unvollständige Wahrnehmung zugänglich. Im Klartext: Das Ich ist nicht einmal Herr im eigenen Haus. Kein Wunder daher, meint Freund, dass viele Menschen sich durch die Psychoanalyse verletzt fühlten und ihre Grundthesen ablehnten, so wie sie es zuvor mit den Thesen von Kopernikus und Darwin getan hätten. Doch auch ein

knappes Jahrhundert nach Begründung der Psychoanalyse sind viele ihrer Grundpositionen ähnlich umstritten wie am ersten Tag. Einzig die von Freud eindrucksvoll beschriebene Macht des Unbewussten rechtfertigt es, von einer »psychologischen Kränkung des Menschen« zu sprechen, sofern dieser sich gern als jederzeit bewusst handelndes Wesen versteht.

In den letzten Jahren wurde die Freudsche Liste der Kränkungen des Menschen um vier weitere ergänzt. Die vierte Kränkung, die so genannte ökologische, bescheinigt dem Menschen, dass er nur sehr unzureichend in der Lage ist, die komplizierte Dynamik der Biosphäre zu durchschauen und zu beherrschen. Mit Blick auf die fortschreitende Umweltzerstörung gewinnt diese Diagnose heute zunehmend an Akzeptanz. Auch die Tanaland-Versuche des Bamberger Psychologen Dietrich Dörner sind nicht unbedingt ein Ausweis für eine hohe ökologische Kompetenz des Menschen. Bei diesen mehrfach wiederholten Experimenten bat Dörner seine Versuchspersonen, ein auf dem Computer simuliertes afrikanisches Land, das sogenannte Tanaland, zum Besseren für die dort lebenden Menschen umzugestalten. Dazu war es nötig, verschiedene Parameter zielgerichtet zu beeinflussen, wie das Wachstum der Bevölkerung, die medizinische Versorgung, die Ernährung, die Düngemethoden, die Wasservorräte etc. Ergebnis: In den meisten Fällen richteten die Versuchspersonen Tanaland zugrunde, da sie es versäumten, die komplexe Vernetzung dieser Parameter angemessen zu berücksichtigen. Dadurch kam es zu schädlichen Spät- und Nebenfolgen, deren Wirkung viele erst dann begriffen, als es längst zu spät war.

Die fünfte Kränkung stammt nach Auffassung des Braunschweiger Philosophen Gerhard Vollmer aus der Verhaltensbiologie, weswegen er sie die »ethologische« nennt. Sie beruht auf der Hypothese, dass der Mensch nicht nur in seinem Körperbau, sondern auch in bestimmten Verhaltensweisen aus dem Tierreich hervorgegangen und stammesgeschichtlich mit diesem verbunden ist. Daran schließt Vollmer gleich eine sechste, epistemologische Kränkung an, die er an die so genannte Evolutionäre Erkenntnistheorie knüpft. Deren Hauptthesen lauten: 1. Unser Gehirn ist das Ergebnis der biologischen Evolution. 2. Unsere subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die reale Welt, weil sie sich im Laufe der Stammesgeschichte daran angepasst haben. 3. Sie stimmen mit diesen realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben unserer Vorfahren ermöglichte.

Zahlreiche Thesen der Verhaltensbiologie und der Evolutionären Erkenntnistheorie stehen bis heute heftig in der Kritik, obwohl es nicht an Hinweisen mangelt, dass sowohl Momente des menschlichen Verhaltens als auch Teile unseres Erkenntnisvermögens eine evolutionäre

Vergangenheit besitzen. Der Mensch lebte niemals in einem Paradies, sondern von Anfang an in einer wechselhaften, oft bedrohlichen Umwelt, die ihn nachhaltig formte. Und das heißt: Er ist kein Sklave seiner Gene, wie manche aus der modernen Biologie glauben folgern zu müssen, sondern als biopsychosoziales Wesen sehr wohl in der Lage, sein Leben frei von genetischen Zwängen zu gestalten. Überhaupt sind Natur und Kultur keine unüberbrückbaren Gegensätze, sie sind zwei Seiten eines ko-evolutionären Prozesses. Mehr noch: Der Mensch ist biologisch so beschaffen, dass er Kultur und Moral produzieren muss. Denn seine physischen Fähigkeiten hätten nie und nimmer ausgereicht, die Strapazen der Evolution zu bestehen.

Die siebte und bis dato letzte Kränkung des Menschen geht auf das Konto des Computers. »Die Bedrohung, die der Computer für das >Ich< darstellt, ist in vieler Hinsicht mit der Freudschen vergleichbar, nur ist sie wesentlich unerbittlicher«, meint die amerikanische Psychologin Sherry Turkle. »Das Computer-Modell des Geistes ist ein weiterer schwerer Schlag für unser Empfinden, im Mittelpunkt zu stehen.« Viele Probleme, deren Lösung früher als Triumph des menschlichen Geistes galt, werden heute von Maschinen ebenso gut oder besser bewältigt. Sogar der amtierende Schachweltmeister musste sich unlängst einem Computer geschlagen geben. Nur: Anstatt sich über die Erfolge ihres Schaffens zu freuen, fühlen viele Menschen sich von ihnen bedroht und entwickeln ausgeklügelte Abwehr-Strategien, um ihre Mittelpunktstellung zu verteidigen. Das heißt in diesem Fall: Sie stellen besonders jene intellektuellen Leistungen als typisch menschlich heraus, die dem Computer am schwersten zu vermitteln sind - und machen ihr Selbstbild damit erneut von den Fortschritten der Technik abhängig. Denn was Computer heute nicht können, können sie vielleicht schon morgen.

Glaubt man Vollmer, steht dem Menschen alsbald die achte Kränkung ins Haus - diesmal von Seiten der Neurobiologie: »Der dualistisch verstandene >Geist< oder die unsterbliche >Seele< werden dabei noch mehr in Wohnungsnot geraten; vor allem aber könnte sich die Willensfreiheit, auf die wir uns so viel einbilden, als Illusion erweisen.« Wie es aussieht, wird der Mensch die Entwicklung der Wissenschaften solange als mögliche Bedrohung seines Selbstbildes empfinden, solange er nicht aufhört, sich über die Natur zu erheben, anstatt sich als Teil von ihr zu begreifen. Erst dann hat er keinen Grund mehr, sich seiner evolutionären Herkunft zu schämen.

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