Irgendetwas ist schiefgelaufen

Sibylle Berg: »Vielen Dank für das Leben« - ein Roman voller Bitterkeit

  • Katrin Greiner
  • Lesedauer: 3 Min.

Hebammen und Ärzte erschrecken. Was hat ihnen diese verwahrloste Frau da im Sommer 1966 auf den Gebärtisch gelegt: ein Wesen, unförmig, weder männlich noch weiblich. Ein »Nichts« - die Mutter, die den grauen Alltag im grauen Osten nur saufend erträgt, nennt es Toto und gibt es weg, unfähig, es zu lieben. - Düsterer noch als sonst geht es im neuen Roman von Sibylle Berg zu. »Vielen Dank für das Leben« - das klingt zynisch.

Dieses Leben, um das keiner gebeten hat, bringt Toto ins Kinderheim zur eiskalten Frau Hagen, die sich daran weidet, das Kind von Anfang an in der Außenseiterrolle zu installieren, und die es später eintauscht bei einem verlotterten Bauern und seiner Frau gegen eine Portion Spargel und ein Haus am See. Das Land von Totos Kindheit und Jugend ist der »Feldversuch Sozialismus« - »den Menschen war unwohl, ihre strahlende Zukunft wollte sich nicht einstellen, und es gab keinen Grund, freundlich zu sein, außer dass es das Leben angenehmer gemacht hätte, aber das wusste ja keiner«.

Toto aber ist freundlich, kennt nichts Schlechtes, ist das einzige Wesen, das innerlich rein ist - daran können nicht einmal schlechte Erfahrungen etwas ändern. Nur die Anderen kommen damit nicht klar, reagieren in der Spiegelung ihrer eigenen emotionalen Defizite gereizt, mit Hass, mit Gewalt.

Das bleibt auch später im Westen so, in den Toto, 16-jährig, von einer spätlinken Öko-Kommune eingeschmuggelt wird. War die DDR zu trist und grau, ist die BRD zu quadratisch, zu clean, zu spießbürgerlich, ein »Land der vielen Joghurts und des Jammerns«. Hier wird Toto ebenfalls nie einen Platz für ein kleines Glück finden, nur sich entscheiden, Frau zu sein.

Gebetsmühlenartig treibt die immer wiederkehrende Kapitelüberschrift »Und weiter« dieses armselige Dasein durch unglückselige Zeiten, in denen grausame Menschen im Hintergrund die Fäden ziehen, bis ins Jahr 2030. Jeder auch noch so geringe Hoffnungsschimmer für diese so anrührende Toto wird bereits im Keim erstickt. Erschütternd die Bilanz: Die ganze Welt ist schlecht, nur Toto ist perfekt.

»So war das Universum geplant gewesen, und dann war irgendetwas schiefgelaufen.« Das Endzeitszenario bestätigt das: Die Frauen haben jetzt das Sagen, aber die Welt ist inzwischen so kaputt, dass nichts mehr sie retten kann - eine Alternative, ein Utopia gar, gibt es nicht. Unerbittlich und wutschnaubend seziert Sibylle Berg in diesem grandiosen Manifest die Systeme hüben wie drüben als scheinheilige. Klein-in-Klein-Welten. Sie legt den Finger punktgenau auf die Wunden der modernen Gesellschaft, die Bürger schätzt, »die über eine normale Intelligenz verfügen. Verformungen über oder unter dem Durchschnitt verursachen Kosten und sind überwachungsaufwendig«. Das kann gar nicht zu einem guten Ende führen, die »Schöne neue Welt« ist erschreckend nah.

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben. Roman. C. Hanser, 400 S., geb., 21,90 €.

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