»Volkes Stimme« ungefiltert

BUCHkritik: »Bild«-Zeitung und seine Leser

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 2 Min.

Der 60. Geburtstags von Deutschlands bekanntestem und berüchtigstem Boulevard-Blatt »Bild« ist schon eine Weile her, doch die Kritik am Springer-«Zentralorgan« ist nach wie vor aktuell. Zum Springer-Geburtstag haben die Soziologen Britta Steinwachs und Christian Baron unter dem Titel »Faul, frech, dreist« eine Untersuchung veröffentlicht, die sich anders als viele andere »Bild«-Kritiken nicht mit der Zeitung, sondern mit den Lesern des Blattes beschäftigt. Grundlage ist dabei die Berichterstattung über den vor einigen Jahren von »Bild« zu »Deutschlands frechsten Arbeitslosen« stilisierten Arno Dübel. Erstmals wurden auch die Postings auf bild-online ausgewertet. Auf mehr als 20 Seiten sind sie zum Teil im Anhang abgedruckt. Auch wenn dieser Anhang etwas lang geraten ist, ist die Lektüre doch erhellend, weil man hier einen ungefilterten Eindruck von »Volkes Stimme« bekommt. Denn die Internetpostings drücken deutlicher als die gedruckten Leserzuschriften aus, was relevante Teile der Bevölkerung über Menschen denken, die dem Arbeitsmarkt aus welchen Gründen auch immer nicht zur Verfügung stehen. Den Online-Kommentatoren gilt es geradezu als Unverschämtheit, nicht jede Arbeit anzunehmen. Selbst Krankheit und Alter sind dabei kein Milderungsgrund.

Mindestens zur »Pappe aufheben im Park« oder »Einkaufswägen zusammenstellen« müsse man Dübel verurteilen. Selbst bei der Minderheit, die Dübel gegen besonders harte Anwürfe in Schutz nimmt, empfängt Dübel kein Mitleid. Nur ganz wenige erinnern an internationale Bestimmungen, die es verbieten, einen offensichtlich kranken Mittfünfziger einfach dahinvegetieren zu lassen.

Aus diesen Zitaten folgern Steinwachs und Baron, dass »Bild« weniger ein Manipulationsmedium ist und vielmehr reaktionäre Stimmungen aufnimmt, die bereits in Teilen der Bevölkerung vorhanden sind. »Bild« gießt diese Stimmungen in Schlagzeilen und macht sie kampagnenfähig, so das Fazit der beiden Autoren.

Dass dabei unterschiedliche Minderheiten zur Zielscheibe werden können, gehört ebenfalls zur 60-jährigen Geschichte der »Bild«. Die langhaarigen Studenten während der Studentenunruhen in den späten 1960ern werden heute abgelöst vom »frechen Arbeitslosen«. Damals schuf die »Bild«-Hetze ein Klima, in dessen Folge die Schüsse auf den Studentenführer Rudi Dutschke fielen. Ähnliches, wenngleich mit glimpflicherem Ausgang, widerfuhr Arno Dübel. In Mallorca wurde er von einer Rentnerin angegriffen, die der Meinung war, er verprasse ihre Steuergelder.

Das Buch liefert Argumente für alle, die noch immer keinen Frieden mit »Bild«gemacht haben.

Christian Baron, Britta Steinwachs: Faul, frech, dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen, Edition Assemblage, Münster 2012, 143 Seiten, 14,80 Euro.

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