Aufstand für Frieden, Brot und Land

Vor 95 Jahren: Die Bolschewiki ergreifen in Petrograd die Macht - Beginn einer neuen Ära

  • Alexander Rabinowitch
  • Lesedauer: 6 Min.
Ohne Lenin wäre der Sieg der Bolschewiki 1917 undenkbar, doch ohne die Volksmassen auch nicht.
Ohne Lenin wäre der Sieg der Bolschewiki 1917 undenkbar, doch ohne die Volksmassen auch nicht.

Aus dem Blickwinkel eines zeitlichen Abstands von fast einem Jahrhundert stellt sich die Oktoberrevolution 1917 als Schlussphase eines ebenso komplexen wie dynamischen politischen und gesellschaftlichen Prozesses dar, der durch die zutiefst ungerechten Zustände im zaristischen Russland hervorgerufen und durch dessen absehbare Niederlage im Ersten Weltkrieg beschleunigt worden war. Diese Phase begann kurz nach der Februarrevolution 1917, die zum Sturz von Zar Nikolaus II. geführt hatte, und fand ihren abschließenden Höhepunkt nach acht Monaten stürmischer Ereignisse in der Machtübernahme durch Lenin, Trotzki und die Bolschewiki am 7./8. November 1917.

Der Sieg der Bolschewiki im erbitterten Kampf um die Macht und im anschließenden dreijährigen, grausamen Bürgerkrieg wiederum mündete in die Festigung des sowjetischen Einparteienregimes, das die gesamte russische Politik und Gesellschaft beherrschte und über weite Strecken des letzten Jahrhunderts die Weltpolitik maßgeblich prägte. Unter Stalin entwickelte sich dieses Regime zu einer äußerst repressiven, allgewaltigen Diktatur. Und doch war die Machtübernahme der Bolschewiki auch der Aufbruch in einen egalitären Sozialismus - ein kolossales Experiment mit Auswirkungen auf alle Länder, das bis heute weltweit Interesse auf sich zieht. Die Oktoberrevolution ist, soviel steht fest, eine herausragende, wenn nicht die bedeutsamste historische Begebenheit des 20. Jahrhunderts überhaupt.

Die Bolschewistische Partei, so wie sie sich 1917 in Petrograd darstellte, hatte sehr wenig Ähnlichkeit mit dem Bild, das die meisten heutigen Darstellungen zeichnen. Sie war keine geschlossene, autoritär geführte Verschwörerorganisation unter der effektiven Kontrolle Lenins. Natürlich wurde ihre Ausrichtung auf eine baldige sozialistische Revolution stark von ihm geprägt.

Wladimir Iljitsch Lenin, Rechtsanwalt, 1870 in Simbirsk als Sohn eines Schulinspektors aus dem niederen Adel geboren, hatte sich in den 1890er Jahren der russischen sozialdemokratischen Bewegung angeschlossen. Alsbald verschrieb er sich dem Ziel, die russische Arbeiterklasse als politische Kraft so zu organisieren, dass sie fähig war, den Kampf für den Sturz der zaristischen Selbstherrschaft zu führen. Dafür strebte er die Bildung einer fest geschlossenen, zentral geführten Organisation disziplinierter, kämpferischer Revolutionäre an. Auch revidierte er die klassische marxistische Konzeption einer Revolution in zwei Stufen, die von den russischen Sozialdemokraten allgemein auf ihr Land angewendet wurde. Er postulierte, dass im Anschluss an den Sturz des Zaren eine »revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft« einer sozialistischen Revolution den Weg ebnen könne, ohne dass dazwischen eine ausgedehnte Periode liegen müsse, die von einer liberalen Regierung und dem Aufbau der Industrie auf kapitalistischer Grundlage geprägt wäre. Nach seiner Rückkehr am 3. April 1917 nach Russland erklärte Lenin öffentlich, dass die Februarrevolution die grundlegenden Probleme des russischen Proletariats nicht gelöst habe, die Arbeiterklasse nun nicht auf halbem Wege stehenbleiben könne und sie die bürgerlich-demokratische Revolution im Bündnis mit den Massen in eine proletarische sozialistische Revolution verwandeln müsse.

In der bolschewistischen Organisation in Petrograd gab es 1917 viele Führer, deren Ansichten sich deutlich von denen Lenins unterschieden. Unter anderem gab es »gemäßigte« oder »rechte« Bolschewiki, die Lenins theoretische und strategische Postulate nahezu durchgängig ablehnten. Ihr bekanntester und wortgewandtester Sprecher war der damals 34-jährige Lew Kamenew, gebürtiger Moskauer und Bolschewik seit 1903. Er stimmte nicht mit der Einschätzung überein, dass die bürgerlich-demokratische Revolution in Russland abgeschlossen sei. Seiner Ansicht nach war die russische Arbeiterklasse noch vergleichsweise schwach. Er wies auch die Annahme zurück, dass ganz Europa kurz vor dem Aufstand stehe, und war davon überzeugt, dass weder die Bauernschaft in Russland noch die Bourgeoisie im Ausland einen Sieg des Sozialismus in Russland zulassen würde. Seit seiner Rückkehr aus Sibirien nach Petrograd Mitte März 1917 trat Kamenew in seiner sanftmütigen Art dafür ein, dass die Provisorische Regierung von den Sozialisten genau kontrolliert, aber nicht abgesetzt werden müsse. In den Folgemonaten, als die russische Revolution an Dynamik gewann, sprach sich Kamenew jedoch für die Bildung einer rein sozialistischen Regierung aus. Sie sollte aus einer breiten Koalition aller wichtigen sozialistischen Gruppen bestehen und nur so lange im Amt bleiben, bis eine konstituierende Versammlung eine demokratische Republik geschaffen hätte.

Zu den vielen unabhängigen Köpfen unter den Petrograder Bolschewiki 1917, die zwar Lenins theoretische Annahmen über die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Russland teilten, in taktischen Fragen jedoch häufig anderer Meinung waren, gehörten auch Grigori Sinowjew, Anatoli Lunatscharski und David Rjasanow. Der Herausragendste jedoch war der legendäre Lew Trotzki, damals 38 Jahre alt, der sich in der Revolution von 1905 als Vorsitzender des Sowjets von St. Petersburg mit seinem Mut und seiner Kühnheit enormes Ansehen bei den Petrograder Massen und weltweiten Ruhm erworben hatte.

Die allgemeine Richtung der bolschewistischen Aktivitäten wurde 1917 von den Parteitagen im April und Ende Juli/Anfang August vorgegeben. Zwischen diesen Zusammenkünften wurde sie in erster Linie durch Mehrheitsbeschlüsse des demokratisch gewählten Zentralkomitees bestimmt. Allerdings war das ZK als Spitze der bolschewistischen Organisationshierarchie unter den chaotischen, von Ort zu Ort verschiedenen und sich ständig ändernden Bedingungen, wie sie 1917 in Russland herrschten, schlicht nicht in der Lage, das Verhalten der großen Regionalverbände zu steuern. Und abgesehen von allgemeinen, breit gefassten Vorgaben versuchte es dies auch selten. In Petrograd hatten wichtige Hilfsorgane wie das Petersburger Komitee, das die Parteiarbeit in der Hauptstadt leitete, und die Militärorganisation, die für die revolutionäre Arbeit unter den Soldaten zuständig war, weitgehende Freiheiten, ihre Taktik und ihre Aufrufe an die Umstände anzupassen. Wenn nötig, verteidigten sie dieses Vorrecht auch energisch.

Abgesehen davon wurde Lenins Konzeption einer kleinen Verschwörerpartei aus Berufsrevolutionären 1917 aufgegeben. Man öffnete die Partei für Zehntausende neuer Mitglieder, was nicht ohne Einfluss blieb. Damit soll die Bedeutung Lenins für die Entwicklung der Revolution in keiner Weise herabgestuft werden. Der Sieg der Bolschewiki 1917 ist ohne Lenin undenkbar. Trotz der regen Debatten und des für alle Seiten fruchtbaren Gebens und Nehmens, das die bolschewistische Organisation damals auszeichnete, war sie zweifellos einiger und geschlossener als alle andere Anwärter auf die Macht. Mit Sicherheit war dies ein wesentlicher Faktor ihres Erfolgs. Dennoch ergibt sich aus den Quellen, dass die relative Flexibilität der Partei und ihr Eingehen auf die vorherrschenden Stimmungen der Massen ebenso stark zum Sieg der Bolschewiki beitrugen wie revolutionäre Disziplin und organisatorische Geschlossenheit bzw. die Unterordnung unter Lenin.

Eine erhebliche Quelle der wachsenden Stärke und Autorität der Bolschewiki 1917 war die geradezu magnetische Anziehungskraft der Plattform der Partei, die sich in den Losungen »Frieden, Land und Brot« und »Alle Macht den Sowjets« ausdrückte. Die Bolschewiki warben außerordentlich energisch und einfallsreich um die Unterstützung der Petrograder Fabrikarbeiter und Soldaten und der Kronstädter Matrosen. Für diese Gruppen bedeutete die Losung »Alle Macht den Sowjets« die Bildung einer demokratischen, ausschließlich sozialistischen Regierung, die alle Parteien und Gruppen innerhalb des Sowjets repräsentierte und sich zu einem Programm des sofortigen Friedens, sinnvoller innenpolitischer Reformen und der raschen Einberufung einer konstituierenden Versammlung bekannte.

Es kam einiges anders. Es war Krieg gegen anti-bolschewistische Armeen aus dem In- und Ausland zu führen. Diesem erbitterten Überlebenskampf von bis dahin ungekannter Härte folgte eine ökonomische und soziale Krise, deren Ausmaß alles, was Russland 1917 durchgemacht hatte, bei weitem übertraf. Während dessen ging der demokratische Charakter der bolschewistischen Partei verloren, und die Unabhängigkeit der Sowjets wurde zerstört. Erneut wurde dem ganzen Land eine repressive, zentralisierte Bürokratie aufgezwungen. Das politische und wirtschaftliche Leben Russlands wurde dem Diktat der bolschewistischen Führung unterworfen. Doch dies gehört bereits zu einem anderen Kapitel der modernen russischen Geschichte.

Von Alexander Rabinowitch, Jg. 1934, emeritierter Professor der Indiana University in Bloomington/USA, erschien jetzt im Mehring Verlag »Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917« (602 S., geb., 29,90 €). zwei Jahre zuvor war vom gleichen Autor im gleichen Verlag »Die Sowjetmacht. Das erste Jahr« (677 S., geb., 34,90 €) in deutscher Übersetzung erschienen.

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