Mittendrin im Schweinezyklus

Wohnungspolitik-Experte: Rückgang der Sozialwohnungen ist bedrohlich

  • Lesedauer: 6 Min.
Heute gehen in drei Städten Mieter und Mieterinnen auf die Straße, um auf Wohnungsnot und Mietenexplosion aufmerksam zu machen. Ein ganzes Problemknäuel hat sich in Folge von Versäumnissen zuständiger Politiker in Städten, Ländern und Bund zusammengeballt. Es wird zu wenig preiswerter Wohnraum gebaut, Sozialwohnungen fallen aus den Bindungen, Mieten steigen, Studenten suchen verzweifelt nach einer Bleibe, für den nötigen Umbau in altersgerechte Wohnungen fehlt das Geld. Gabriele Oertel befragte das Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft »Städtebau- und Wohnungspolitik« Joachim Tesch.

nd: Die Bundesregierung spricht in ihrem Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft erstmals von lange nicht mehr bekannten Wohnungsengpässen, drastisch steigenden Mieten und einer Wohnkostenbelastung auf Rekordniveau. War diese Entwicklung zu einer neuen Wohnungsnot absehbar? Und welchen Versäumnissen ist sie geschuldet?
Tesch: Es handelt sich nicht schlechthin um »Versäumnisse« - es handelt sich um einen Branchenzyklus, der auf einem von Kapitalinteressen dominierten Markt kaum vermeidbar ist. Dieser ist im Fachjargon der Volkswirtschaftslehre als Schweinezyklus bekannt. Steigen Preise und Gewinne, kurbeln die Produzenten blindlings die Produktion an, bis das Angebot die Nachfrage übersteigt und Preise und damit Gewinne sinken - bis schließlich ein neuer Zyklus beginnt. Dieses Auf und Ab lässt sich auch für den Wohnungsbau in der Bundesrepublik deutlich nachweisen. Diesem Wechsel von »entspanntem Wohnungsmarkt« und Wohnungsnot könnte eine weitsichtige staatliche Wohnungspolitik entgegen steuern. Aber von Bundesregierungen, die den Eigentümerinteressen verpflichtet und nach wie vor von der neoliberalen Marktideologie geprägt sind, ist das kaum zu erwarten.

Ergo?
Da hilft nur, von allen interessierten Organisationen - vom Mieterbund über Verbände der Bau- und Baustoffwirtschaft und den Gewerkschaften bis zu den Parteien der parlamentarischen Opposition - gemeinsam politischen Druck auszuüben. Eine beispielhafte Aktivität ist die WOHNUNGBAUINITIATIVE, in deren Auftrag die Pestel-Studie zum Defizit an Sozialwohnungen erstellt wurde. Weitsichtig heißt, nicht erst zu handeln, wenn Engpässe eingetreten sind, sondern kontinuierlich auf Verstetigung hinarbeitend.

Der Bundesbauminister zeigt in letzter Zeit auffällig oft mit dem Finger auf die Länder. Haben die womöglich einen Fehler gemacht, als sie mit der Föderalismusreform die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau auf eigenen Wunsch übernommen haben?
Hinsichtlich des sozialen Wohnungsbaus spricht für die Verantwortung der jeweiligen Landesregierungen die sehr unterschiedliche Entwicklung in den Ländern und Regionen: In vielen Städten gibt es Wachstum und Zuwanderung und damit verbunden Mangel an Wohnraum. In anderen, besonders ländlich geprägten Gebieten schrumpft die Bevölkerung und stehen viele Wohnungen leer. Diese Differenziertheit zeigt sich auch im prognostizierten gesamten Neubaubedarf an Wohnungen bis 2025. Die Spanne des durchschnittlichen jährlichen Neubaubedarfs je 10 000 Einwohner reicht von 40 und mehr bis unter 10. Diese Differenziertheit erfordert auch in der Wohnungspolitik regional unterschiedliche Herangehensweisen, zumal die Eigentumsstrukturen des Wohnungsbestandes - Anteile von Privatpersonen, privaten Firmen, kommunalen Unternehmen und Genossenschaften - inzwischen von Kreis zu Kreis erheblich divergieren.

Der Mieterbund hat erst kürzlich darauf hingewiesen, dass sich die Zahl der Sozialwohnungen in den letzten Jahren drastisch verringert hat, das Pestel-Institut sprach unlängst von vier Millionen fehlenden Sozialwohnungen. Alarmierende Fakten oder alarmistische Methode?
Der Rückgang der Zahl von belegungs- und mietgebundenen Wohnungen - kurz: Sozialwohnungen - ist insgesamt bedrohlich; das betrifft sowohl den Bestand als auch die Entwicklung des Neubaus. Angesichts der wachsenden Wohnungsnot in Ballungs- und Wachstumsregionen besteht ein großer Handlungsbedarf. Notwendig ist, hier entschieden mehr öffentliche Mittel für die soziale Wohnraumförderung einzusetzen, mehr Sozialwohnungen neu zu bauen bzw. neue Belegungsrechte und Mietbindungen im Wohnungsbestand zu erwerben. Auch die Verringerung von nicht belegungsgebundenen Wohnungen im Besitz kommunaler Unternehmen ist bedenklich. Durch die Verkäufe im vergangenen Jahrzehnt haben sich die Zugangsmöglichkeiten zu mietgünstigen Wohnungen verringert, da die neuen Eigentümer zumindest längerfristig vor allem Renditeziele verfolgen.

Also sind die Alarmrufe durchaus berechtigt?
Bei alledem halte ich den vom Pestel-Institut ermittelten Bedarf an Sozialwohnungen für überhöht. Die Studie zählt als »unmittelbare Bedarfsträger für sozialen Wohnraum« sowohl Hartz-IV-Empfänger, Haushalte mit Grundsicherung als auch Wohngeldempfänger. Die Summe dieser Bedarfsträger für Mietwohnraum beträgt demnach 4,35 Millionen Haushalte. Zu bezweifeln ist, ob die Autoren der Studie durch eine solche starke Ausweitung der Sozialwohnungen die Zahlung von Unterkunftskosten und Wohngeld an die Mieterhaushalte gänzlich abschaffen oder zumindest stark einschränken wollen.

Sie vertreten die These, dass es nicht schlechthin um mehr Sozialwohnungen gehen darf, sondern soziale Wohnförderung nötig ist. Warum diese Unterscheidung?
Soziale Sicherung des Wohnens darf nicht auf sozialen Wohnungsbau und Sozialwohnungen reduziert werden. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes hatten 2010 insgesamt 7,3 Millionen Privathaushalte ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1300 Euro (einschließlich aller öffentlichen Transferzahlungen, wie Renten, Arbeitslosen-, Wohn- und Kindergeld). Im Durchschnitt waren dies in dieser Einkommensgruppe 900 Euro. Davon gaben sie 452 Euro - also die Hälfte - für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung aus. Diese Haushalte können offenkundig nicht aus eigener Kraft ihre Wohnungsfrage lösen.

Diese Situation droht sich vor allem aus zwei Gründen zu verschärfen. Zum einen nimmt bekanntlich die Altersarmut zu. Zum anderen belasten höhere Strompreise und höhere Umlagen für die energetische Wohnungsmodernisierung die Haushalte mit niedrigen Einkommen überdurchschnittlich. Deshalb müssen nicht nur die Mittel für Sozialwohnungen aufgestockt, sondern auch die Regelungen für Wohngeld und Unterkunftskosten künftig rascher angepasst werden. Aber Tatsache ist, dass die letzte Wohngeldreform erst nach acht Jahren erfolgte.

Die alte Frage nach der Objekt- oder Subjektförderung...
Vor- und Nachteile beider Hauptförderwege - über die Wohnung als Objekt oder über den Mieterhaushalt als Subjekt - sollten sorgfältig abgewogen werden. Dabei müssten als Kriterien auch die Wahlmöglichkeit bei der Wohnungssuche und der bürokratische Aufwand berücksichtigt werden. Beide Instrumente haben sich bewährt, sind weiterhin notwendig, die Objektförderung in Gestalt der Sozialwohnungen, die Subjektförderung in Form von Wohngeld bzw. Übernahme der Wohnkosten.

Was funktioniert von den beiden Fördermöglichkeiten wann und wo am besten?
Außer der Aufstockung der Mittel für die Sozialwohnungen bleibt es weiterhin erforderlich, die Mittel für die Übernahme der Kosten der Unterkunft und die Zahlung von Wohngeld zu erhöhen, um auch den Zugang zu Wohnungen außerhalb des schmalen Segments der belegungsgebundenen Wohnungen in größerem Umfang zu ermöglichen. Die Objektförderung, verbunden mit kommunalen Belegungsrechten, soll dabei vor allem den Haushalten helfen, die nicht aus finanziellen Gründen, sondern wegen anderer Vorbehalte der Vermieter - Herkunft, sozialer Status, Alter oder Behinderungen - unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche haben. Das spielt besonders in Ballungs- und Wachstumsregionen eine Rolle, in denen Wohnungsknappheit mit steigenden Mieten verbunden ist. In diesen Regionen ist deshalb auch der Neubau von Sozialwohnungen erforderlich. In schrumpfenden Regionen lassen sich dagegen notwendige Sozialwohnungen in der Regel im Bestand binden. Wie notwendig daneben die Subjektförderung ist, wird besonders deutlich an der Tatsache, dass der Anteil der Empfängerhaushalte von Wohngeld an den Privathaushalten im Jahre 2010 besonders in Ostdeutschland laut Bericht der Bundesregierung flächendeckend über 12,5 Prozent betrug.


Die Zahl der Sozialwohnungen ist zwischen Ende 2002 und Ende 2010 um etwa ein Drittel - das sind 800 000 Wohnungen - zurückgegangen. Das folgt aus der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesbauminister auf eine Parlamentarische Anfrage der Abgeordneten der Linksfraktion Caren Lay. Danach gab es am 31.12. 2002 bundesweit noch 2 470 605 Sozialwohnungen. Am 31.12. 2010 wurden landauf landab nur noch 1 662 147 Wohnungen mit Bindungen der Wohnraumförderung gezählt. Jährlich werden es 100 000 weniger, weil Preis- oder Belegungsbindungen auslaufen.

Joachim Tesch, Professor der Wirtschaftswissenschaften, beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Bau- und Wohnungspolitik und war lange Zeit für die PDS/LINKE als Experte auf diesem Gebiet tätig.

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