Festland trifft Insel

Zwei Dokumentarfilme: »Das Venedig-Prinzip« im Kino & »6 x Venedig« auf DVD

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Venedig geht baden, heißt es im Dokumentarfilm »Das Venedig-Prinzip«. Im Gegenteil! Seine Bewohner ziehen fort von der Insel Venedig aufs Festland nach Mestre. Man verlässt die Häuser, deren Fundamente aufgeweicht sind, und bringt sich in Sicherheit aufs Trockene! Mestre gehört offiziell zu Venedig. In diesen Stadtteil verlagert sich nun das öffentliche Leben, die Altstadt aber ist längst zur lukrativen Spekulationsmasse geworden: Zweitwohnsitz für reiche Amerikaner (bis zu 12 000 Euro kostet der Quadratmeter Wohnraum hier!), Anlegestelle für riesige Kreuzfahrtschiffe (1400 kommen im Jahr hierher - in Hamburg sind es 70). Sucht man im Internet ein Hotel, werden einem in Venedig über 600 angeboten. Und das bei einer Einwohnerzahl von nur 60 000! So wenige waren es zuletzt nach der großen Pest von 1438.

Und jedes Jahr ziehen weitere 2000 fort, weil das Leben hier zu teuer und zu strapaziös wird. Die Entbindungsstation im Krankenhaus San Giovanni e Paolo ist bereits geschlossen worden. Auch die Hauptpost, der Palazzo »Fontego die Tedeschi« ist an den Benetton-Konzern verkauft worden, der daraus ein Luxus-Kaufhaus machen wollte. Doch die Umbaupläne sind nun erst einmal gestoppt worden, zu groß waren die Proteste aus aller Welt. Ja, hier regiert das Geld. Gerechterweise muss man sagen, nicht erst seit heute, sondern seit fast tausend Jahren! Doch der derzeitige Gewinn aus dem Tourismus von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr kann selbst mit Venedigs raffgierigsten Zeiten mithalten - nur, dass heute dieser Gewinn zumeist in die Taschen internationaler Konzerne und nicht in die der Venezianer fließt.

Was lag da näher, als die letzten venezianischen Ureinwohner zu porträtieren, ganz normale Leute? Beide Filme, »Das Venedig Prinzip« von Andreas Pichler und »6 x Venedig« von Carlo Mazzacurati (als DVD erschienen), verbindet der gleiche melancholische Blick, beide porträtieren Menschen, die hier leben, oder gelebt haben und dann nach Mestre zogen, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen konnten. Beide Filme sind intime Innenansichten einer Stadt, die an ihrem Lebensnerv verletzt scheint.

Wer durch die Gassen geht, sieht überall Fleischerläden, Bäcker oder kleine Handwerksbetriebe - zumeist leerstehend, aufgegeben. Jeden Tag kommen mehr Touristen in die Stadt, als diese Einwohner hat. Ernst Jünger hat für solche aus dem Gleichgewicht geratene Zustände das Wort »titanisch« gefunden: Da hat etwas sein menschliches Maß verloren. Aber war Venedig je eine normale Stadt? Das nicht, sie war immer ein Ort, der von Fremden überflutet wurde, von hier aus handelte man mit der ganzen Welt, in Venedig wurde schließlich der Kapitalismus erfunden. Und der Tourismus ist seit dem 19. Jahrhundert Venedigs Haupteinnahmequelle. Doch etwas Entscheidendes hat sich doch geändert. Seit etwa zwanzig Jahren wird die Stadt selbst zum Objekt der Ausbeutung.

Der Tourismus selbst hat sich verändert, man reist nicht mehr hierher, um die Kirchen und Museen zu besichtigen, man macht auch keinen Badeurlaub mehr auf dem Lido, der immer mehr herunterkommt - nein, man rast im Expresstempo durch die Stadt und »shoppt« nebenbei. Mehr als neunzig Prozent der Venedig-Besucher sind Tagestouristen. Und die Stadt selbst hat kaum mehr ein eigenes Alltagsleben zu bieten. Die Touristen fotografieren sich am Ende immer gegenseitig. Das ist der Virus, der nicht nur Venedig zerstört, auch Florenz, Salzburg - und neuerdings auch Berlin. Die Stadt ist immer gleichzeitig überfüllt und auf gespenstische Weise leer. Letzteres merken nur die, die am späten Abend durch die Gassen gehen. Kaum irgendwo mehr Licht. Die meisten Häuser, wenn nicht längst Hotels, gehören inzwischen Ausländern, die hier ihr Geld anlegen und vielleicht einmal im Jahr für einige Tage kommen.

So treffen wir in »6 x Venedig« auch Roberta, ein Zimmermädchen aus dem Luxushotel Danieli. Schon ihre Mutter war Zimmermädchen, ihr verunglückter Bruder Gondoliere. Eine venezianische Familie. Das Gesicht von Roberta ist wie das einer Porzellanpuppe. Wenn sie spricht, dann merkt man ihr an, was es heißt, eine Venezianerin zu sein: diese stille Würde, die nicht Arroganz ist. Nur einmal ist sie durch den Haupteingang des Danieli gegangen, an ihrem ersten Arbeitstag, da wurde darauf aufmerksam gemacht, dass dieser nur für Gäste sei. Hollywood-Prominenz wie Brad Pitt steigt hier ab und wenn dieser dann nicht zurückgrüßt, wenn Roberta ihm auf dem Flur begegnet, oder gar durch sie hindurchschaut, als sei sie Luft, dann ist er für immer bei Roberta unten durch. Sie weiß, wirklich vornehme Menschen sind anders. Sie sind so wie sie selbst: unscheinbar, aber auf geradezu schamhafte Weise stolz. Auch das ist Venedig. Man verbirgt sich, wartet, dass die Flut der Touristen abebbt.

Zwei sehenswerte Dokumentationen, die einzelne Lebensgeschichten mit pointierter Kritik an herrschenden Zuständen verbinden. Sie verklären Venedig nicht, sondern kultivieren den skeptischen Blick. Nur so ist noch Poesie möglich: auf geradezu eigensinnig-trotzige Weise das Bewusstsein hochhaltend, dass die Insel Venedig Avantgarde ist und bleibt - und jedes Festlandsanhängsel, und sei es noch so groß und mächtig, ihrem Beispiel folgen sollte. Denn Venedig weiß schließlich am besten aus seiner Geschichte, wie man inmitten von Untergängen noch lange überdauern kann.

Ist Venedig nun eine tote Hülle, sind die Bewohner am Ende angelangt, erschöpft, besiegt? Wer das glaubt, kann nur einen Tag hier gewesen sein. Venedig zu lieben, aber braucht es Zeit, Geduld und auch jene Wut, mit der nun immer mehr Venezianer Sturm laufen gegen die Bürokratie. Die kommt natürlich vom Festland, aus Rom oder schlimmer noch: aus Mestre.

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