Appell für Fantasie und Toleranz

Das junge Ensemble des Friedrichstadt-Palasts zeigt sich »Ganz schön anders«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Keine Frage: »Ganz schön anders«, die neue Produktion von jE, dem jungen Ensemble des Friedrichstadt-Palasts, wird nicht nur ihre Adressaten erreichen, sondern sie wohl auch nachdenklich entlassen. Mehr kann eine Show nicht leisten. Das aber leistet sie in Bestform. Stefanie Froer hat sich dafür eine Geschichte einfallen lassen, die beides verbindet, Realität und Fantasie. »Von der Kraft der Fantasie« heißt deshalb auch der Untertitel.

Real in Schulen ist Mobbing unter Kindern, gleich aus welchem Grund. Hier hat es die stille, scheue Helene schwer, sich gegen die lautstarke Clique der Magic Mosquitos durchzusetzen. Diese Girls sind schick angezogen und strotzen vor Selbstbewusstsein, während Helene im Grau ihres schmalen Kleides unscheinbar wirkt und entsprechend gehänselt wird. Nur daheim, in den ebenfalls grauen Betonwänden der elterlichen Wohnung, blüht sie auf, wenn sie in ihr Buch weitere Geschichten um Lolly Lakritze und deren Freunde im Zuckerwatteland schreibt. Denn Helene hat etwas, was anderen fehlt: Fantasie.

Eine pädagogisch wertvolle Idee, in Zeiten zunehmender Oberflächlichkeit auf die vielbeschworenen, dennoch geringgeachteten inneren Werte zu verweisen. Dass es eben nicht die äußere Hülle macht, sondern deren Inhalt, können die jungen Besucher ab fünf Jahren eindringlich und spielerisch lernen.

Dann passiert, was uns bisweilen jene Fantasie eingibt: Helene hat sich die Figuren und deren Erlebnisse zwar nur ausgedacht, aber so intensiv, dass sie sich beleben und das Mädchen mit in ihre Welt nehmen. Eine Steilvorlage für das Genre Show. In den Kostümen von Stephan Bolz und auf der wandelbaren Bühne von Roy Spahn tauchen im Paradetritt 24 kleine rundliche Marschmellows auf, als hätten Oskar Schlemmers geometrische Figurinen Pate gestanden, dann knallbunte Gestalten mit Haar aus Zuckerwatte, Sahneschnittchen, ein durchgeknallter Manager mitsamt singendem Schweinchen Marzipanja, schließlich noch Curry Wurst mit seinen Fritten und als Pendant der essbare Hamburger Big Jack und seine Gefolgschaft. Die haben tatsächlich Bock-Wurst auf einen Song zwischen Rap und Squaredance und tanzen dazu. Die Palasttechnik spendiert als Spezial ihre Wassersäule aus »Show me«, leiht so manches programmierte Lichtkonzept aus und borgt auch, einzige Profis unter den über 100 agierenden Kinder und Jugendlichen, die bezaubernde Luftnummer der Acrobatic Troupe Shenyang aus China.

Bis sich aber für Helene alles zum Guten wendet und sie für ihr Schreibtalent allseits akzeptiert wird, sind noch, klarer Fall, einige Hindernisse zu überwinden. Hilfreich steht dem Mädchen ein neu zugezogenes Geschwisterpaar zur Seite, besonders Eli, der sich in sie verliebt. Auch Helene hat es ziemlich erwischt, was selbst ihren Betonwänden mit den Kindergesichtern auffällt. Nur das grässlich abstrakte Helene-Porträt, an dem die Mutter hängt, stellt sich quer und schreibt nachts stimmungskillende Figuren in das Buch ein: den kleinen Jammerlappen im silbrigen Astronautenlook, die Nervensäge mit den spitzen Scherenhänden. Wie Helene das merkt und dank Lollys Ermunterung die richtige Entscheidung trifft, um die Situation im Zuckerwatteland zu retten; wie sie auch im realen Leben Freunde findet und sich alle im Finale vereinen, lässt sich unterhaltsam und kurzweilig ansehen. Johannes Grebert hat straff inszeniert und schafft dennoch Zeit für die besinnlichen Momente. Gleich Helenes erster Song, es mache keinen Spaß, allein zu sein, hat sanfte Ohrwurmqualität und bringt Mariam Akopjans Stimme bestens zur Geltung. Dass für die Musiktitel das Komponisten-Quartett der »großen« Revue am Werk war, beweist die Wertschätzung für die Kinderproduktionen und ist ein Erfolgsgarant. Und dass, neben jE-Direktorin Christina Tarelkin, Maik Damboldt und Aliaksei Uvarau aus der »Großen« sowie weitere Choreographen für die jungen Darsteller kreiert haben, zeigt sie ohne Überforderung in verschiedenen Handschriften.

Ob die ständig überbelasteten Eltern der Buchvorlage, die kaum Zeit für ihre Kinder haben, nicht allmählich zum Klischee werden, bleibt anzumerken. Der gesamten Produktion tut dies keinen Abbruch. Sie lebt ganz aus der Spielbegeisterung der sprechenden, singenden und tanzenden Akteure zwischen sechs und 16. Robert Stoffels Eli, ungelenk in seiner ersten Liebe, und Lea Gordins überdrehte Marzipanja von erstaunlichem Stimmumfang seien stellvertretend genannt. Dass alle Parts doppelt, teils mehrfach besetzt sind, weist auf den Talentepool »junges Ensemble« hin.

Bis 31.1., Friedrichstadt-Palast, Friedrichstr. 107, Mitte, Kartentelefon: 23 26 23 26, Infos unter www.show-palace.eu

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