Schnell aufwärts in Abgründe
Genau vor einem Jahr: Slumbewohner Medellíns erhielten eine Rolltreppe
Das Weihnachtsgeschäft rollte aus - gewiss hätten sich dieser Tage auch Rolltreppen aller Waren-Kathedralen gern zusammengerollt. Endlich teilhabend an der allgemeinen Ermattung, die sich Fest nennt. Der Mensch auf Kaufhaus-Rolltreppen: zahlendes Schräubchen auf dem Fließband gnadenloser Konsumentenproduktion. Diese Kinder da: fröhliche letzte Kunden in diesem Zirkus? Es sind Kinder aus Medellín, Kolumbien. Genau vor einem Jahr geschah jenes Einmalige, das Volker Braun in ein Gedicht fasste: »Inbesitznahme der großen Rolltreppe durch die Medellíner Slumbewohner am 27. Dezember 2011«.
Es gibt Sinnbilder, in denen Zuwendung und Zynismus unauflöslich ineinander stürzen. So hier. Eine Treppe für jene, die über der Stadt in Abgründen hausen. Die Treppe wurde den Schwachen gegeben, das ist Hilfe - aber was diesen vielen erbärmlichen Leben in den Hütten doch trotzdem genommen bleibt an Chancen, an Gerechtigkeit, das rollt keine Treppe weg. So wie kein gutes Wort zu Weihnachten - auf Kanzeln gesagt, im Fernsehen vor bundespräsidialem Lichterbaum - jenes bittere Geschenk vergessen macht, dem sich schöne Worte wohlweislich versperren. Dieses bittere Geschenk war auch zum jüngsten Fest vielfach nur: das nackte Leben, gerettet gegen das Feuer von Kriegswaffen, gegen den Obdachlosenfeind Frost, gegen den Hunger.
So erzählt diese Treppe, ein Jahr alt, vom modernen Sisyphos, der die Welt für geregelt hält: Er wälzt nicht mehr den Stein, er verweist stolz auf die Automatik nach oben. Die Güte in der Welt erübrigt ihm den Kampf um die bessere Welt? So wälzt er die wirklichen Probleme von Armut und Ungerechtigkeit weiter und weiter - ab. Hans-Dieter Schütt
Volker Brauns Gedicht, exklusiv für »nd«: S. 15
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