Kleines Herz, hohes Alter

Medizin für Frauen orientiert sich am männlichen Muster

  • Dagmar Gleim
  • Lesedauer: 4 Min.
Mittlerweile erkennen immer mehr Ärzte, dass Frauen andere Krankheitsrisiken haben und auch andere Symptome bei gleichen Erkrankungen entwickeln als Männer. Das gilt nicht nur für Herzerkrankungen und Diabetes, sondern auch bei Schmerzen. Vor dem Herzinfarkt wähnen sich Frauen oftmals sicher. Sie und auch ihre Ärzte denken, das sei Männersache. Die Zahlen in den westlichen Industriestaaten zeigen aber, dass Frauen an den häufigsten Todesursachen Herzinfarkt und Schlaganfall einen immer größeren Anteil annehmen. Obwohl Frauen über ihren Körper besser Bescheid wissen, ein anderes Körperbewusstsein haben und regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, sind sie gegenüber den Männern bei Diagnostik und Therapie oft benachteiligt. Viele Ärzte folgen Geschlechterklischees und diagnostizieren eher psychosomatische als organische Ursachen. Das kann fatale Folgen haben. »Herz-Kreislaufkrankheiten müssen mehr unter geschlechtsspezifischen Aspekten erforscht werden«, fordert Dr. Monika Weber vom Frauengesundheitszentrum in Bad Salzuflen. In der medizinischen Erforschung fast aller Volkskrankheiten konzentriere man sich immer noch auf den Mann als Modell. Das werde den Realitäten nicht gerecht, kritisiert auch Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA). Vielen Ärzten bedeutet das Leben einer Frau eine Folge von instabilen, mit Mängeln und Krankheiten behafteten Abschnitten. Sie suchen bei Beschwerden verstärkt nach psychischen Ursachen. Bei Männern dagegen beschränken sie sich meist auf organische Symptome. Weil der Herzinfarkt als typisch männliche Erkrankung gilt, nehmen Frauen, deren Familienangehörige und auch Ärzte die Krankheitsanzeichen weniger ernst. Hinzu kommt, dass sich der Herzinfarkt bei Frauen oft durch andere Symptome bemerkbar macht. Nicht selten sind Übelkeit, Schmerzen im Oberbauch und Erbrechen alleinige Anzeichen eines bevorstehenden Infarkts. Kein Zeichen von Engegefühl, heftigem Druck im Brustkorb und Schmerzen, die in Arme und Schulterblätter ausstrahlen. Das mag einer der Gründe sein, warum Frauen fast doppelt so häufig am ersten Herzinfarkt sterben als Männer. Bei vielen bleibt der Infarkt unentdeckt. Zu lange wurden Arzneimittel überwiegend an Männern getestet. Strengere Richtlinien bemühen sich nun, Frauen und Männer gleichermaßen in Arzneimittelstudien einzuschließen. Medikamente wirken bei den Frauen anders. Leider liegen nur unzureichende Daten darüber vor, welche Dosierung angemessen ist. Häufig sind es die weiblichen Hormone, die mit dem Arzneimittel in Konkurrenz treten, da sie zum Teil die gleichen Abbauwege nehmen. Vera Regitz-Zagrosek, Kardiologin an der Charité und Sprecherin des Zentrums für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) Berlin, erklärt: »Bei den an Diabetes erkrankten Frauen wird die Interaktion von Sexualhormon und Insulin einfach übersehen.« Auf einem wissenschaftlichen Kongress des Ärztinnenbundes e. V. zum Thema »Geschlechtsspezifische Aspekte von Schmerzen«, forderte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt leidenschaftlich, dass der Genderaspekt in die gesamte medizinische Forschung einfließen müsse. Die Schmerztherapie ist ein gutes Beispiel für die Unterrepräsentanz der Frauen in der Forschung. Sie empfinden Schmerz anders und artikulieren ihn schneller als Männer, dennoch beeinflussen Männer die wissenschaftlichen Ansätze in der Schmerztherapie. Die Pharmaindustrie geht nach Ansicht des Gefäßchirurgen Enno Freye bei ihren Untersuchungen von völlig falschen Werten aus. Empfinde die Frau Schmerzen, so werde bei ihr das limbische System aktiviert, die Region für gefühlsmäßige Reaktionen. Bei den Männer hingegen ist der kognitive, bewusstseinsbildende Teil des Gehirns tätig. Dem Umstand, dass Frauen Gefühlsäußerungen eher zugestanden werden, ist zu verdanken, dass der Schmerz oft unterschätzt und als Folge davon untertherapiert wird. Das größte Problem ist und bleibt die mangelnde Grundlagenforschung. Es gibt zu wenig Datenmaterial, um präzisere Aussagen zu machen und die Kenntnisse geschlechtsspezifisch anzuwenden.
Frauen sind von der Pubertät bis zum Klimakterium überversorgt, bei Diabetes oder Herz-Kreislauff-Krankheiten eher unterversorgt. Die Frage der Konstitution beeinflusst auch die Arzneiwirkung: Im Durchschnitt zwölf Zentimeter kleiner, haben Frauen ein Herzvolumen von 400 bis 600 ml (Männer: 700 bis 800 ml), ihr Herzminutenvolumen beträgt circa drei Liter pro Minute (Männer: circa fünf Liter pro Minute), ihr Blutspiegel ist zyklusabhängig (Männer: weitgehend gleichbleibend), sie sind circa zwölf Kilo leichter und haben einen leicht höheren Fettanteil. Männer sterben im Durchschnitt im Alter von 74 Jahren, Frauen mit 80 Jahren. Es sind mehr Frauen tablettenabhängig und mehr Männer alkoholsüchtig.

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