Rebellischer Kopf

Johann Gottfried Seume, der Mann von ganz unten, wurde vor 250 Jahren geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Nach Italien wollte er, unbedingt. Aber nicht mit der Kutsche, sondern zu Fuß. »Der Gang ist lange Zeit eine meiner Lieblingsträumereyen gewesen«, schrieb er im Dezember 1801 in einem Brief. Da hatte Johann Gottfried Seume, beschäftigt als Lektor und Druckereiaufseher im Hause des Verlegers Göschen, gerade seine Arbeit an den Werken Wielands beendet. Zuletzt hatte er den großen Altersroman »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen« durchgesehen und mit Freuden registriert, wie der gute Wieland seinen Helden am Schluss nach Syrakus schickte, in die Stadt, die auch er sehen wollte, weil dort sein Lieblingsautor Theokrit geboren worden war. Jetzt gab es für Seume kein Halten mehr.

Am 6. Dezember 1801 rüstete er in Grimma zum großen Marsch. Er schnallte den Tornister, griff seinen Knotenstab und ging los. Er lief tatsächlich bis nach Sizilien und zurück über Paris. Im September 1802 war er wieder in Grimma. Neun Monate ist er unterwegs gewesen, er hat dabei etwa 6 000 Kilometer bewältigt und sich, wie er einräumte, nur manchmal ein Gefährt geleistet. Hinterher schrieb Seume alles auf. Sein Buch »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802« erschien im Frühjahr 1803. Die Wanderung, heißt es im Vorwort, sei sein erster »ganz freier Entschluß von einiger Bedeutung« gewesen.

Solche Freiheit war ihm bis dahin nicht gegönnt. Er kam, geboren am 29. Januar 1763 in einem Dorf nahe Lützen, aus einer Bauernfamilie, die nach dem Tod des Vaters rasch verarmte, besuchte, dank gräflicher Gunst, Schulen in Borna und Leipzig, bezog die Universität der Messestadt, um, wie verlangt, Theologie zu studieren, las die Schriften der Aufklärer, büßte dabei den Glauben ein und hatte nach zwei Semestern genug. Nach Paris zog es ihn, doch er kam nicht weit. In der Rhön griffen ihn hessische Werber auf, er wurde mit vielen anderen nach England verkauft und nach Amerika verfrachtet, wo man die Söldner aber nicht mehr brauchte und im Herbst 1783 wieder nach Europa schaffte. In Bremen desertierte er, doch nun schnappten ihn preußische Werber, die ihn für die nächsten vier Jahre in eine Uniform steckten. Danach bezog Seume erneut die Leipziger Universität, studierte Jura, Philologie und Philosophie, er promovierte und habilitierte sich sogar, doch all die Gelehrtheit nutzte ihm wenig. Ein Dasein als Hauslehrer in einer wohlhabenden bürgerlichen oder adligen Familie schien ihm nicht gerade verlockend. Bloß nicht schon wieder so abhängig, so untertan, nicht mehr als ein unmündiger Diener sein, dann schon lieber die Uniform. So wurde er Offizier in zaristischen Diensten und anschließend, 1796, Korrektor bei Göschen in Grimma. Zwei Jahre wollte er beim Verleger bleiben und dann endlich seine Freiheit genießen. Es wurden vier Jahre. Dann aber ging’s nach Italien.

Diese Wanderung wurde der Wendepunkt seines Lebens. Seume fand überall Armut und Elend, Hunger und Verbrechen, und er sah nicht weg. Er hielt all das in seinem Reisebuch fest und zeigte plötzlich, was für ein temperamentvoller und unbestechlicher Prosaist er war. Was Herders Frau Caroline verächtlich »unerträgliches Zeug« nannte, weil Seume, der »grobe Bengel«, Land und Sitten aus der Wirtshausperspektive geschildert habe, machte in Wahrheit den Gewinn des Berichts aus. Seume hat, so rebellisch wie kein anderer, das von Napoleons Feldzügen verwüstete Italien gezeigt, seine Misswirtschaft, den Schmutz, das verarmte Volk, die Verwahrlosung, den Aberglauben, die Willkür des Adels und die Verlogenheit des Klerus. »Ich blickte fluchend um mich her über den reichen Boden«, schrieb er, »und hätte in diesem Augenblick alle sizilianischen Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können.«

Seume hat dann noch ein weiteres Reisebuch geschrieben, den Bericht »Mein Sommer 1805«, Resultat seiner zweiten großen Wanderung, diesmal über Polen nach Moskau und zurück über Skandinavien. Er war da nicht so frei wie in Italien, weil er bis St. Petersburg einen jungen Adligen begleiten musste. Außerdem fiel ihm das Laufen schon schwerer. Auch in diesem Buch ist Seume ein überaus kritischer Kopf, wütender Ankläger von Leibeigenschaft, Trunksucht und Brutalität. Er glaube, »jedes Buch müsse näher oder entfernter politisch sein«, erklärte er. »Ein Buch, das dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht.«

»Mein Sommer 1805« erschien 1806 wurde bald in Süddeutschland, Österreich und Russland verboten. Seume, begeisterter Anhänger der französischen Menschenrechtsdeklaration von 1789, scheiterte fortan immer wieder an der Zensur. Im Juli 1808 bot er dem Verleger Johann Friedrich Cotta eine Auswahl seiner Aufzeichnungen an, »das Mildeste«, was er unter den »Apokryphen«, seiner tagebuchähnlichen Sammlung politischer Notizen, Aphorismen und Glossen zur Zeit, finden konnte. Aber Cotta schreckte zurück. Auch Göschen und Seume-Verleger Hartknoch lehnten ab. Es dauerte bis 1811, dass wenigstens einige dieser Gedanken mit ihrer Kritik an Napoleon und den deutschen Fürsten, freilich arg verstümmelt, publiziert wurden. Spätere Veröffentlichungen brachten die »Apokryphen« durchweg redigiert und gekürzt. Im Schloss Lützen, wo im Seume-Zimmer das seit 1932 aufbewahrte Manuskript aufgeschlagen in einer Vitrine liegt, kann man sich von den Spuren der Zensur, den Eingriffen und Streichungen leicht selber ein Bild machen. Vollständig sind die »Apokryphen« erst 1962 in der zweibändigen Seume-Ausgabe des Volksverlages Weimar (später des Aufbau-Verlages) und in Werner Krafts Kölner Edition der »Prosaschriften« aus demselben Jahr erschienen.

Lange ist dieser bescheidene, politisch hellwache Seume, der, erst 47 Jahre alt, im Juni 1810 starb, nur als Reiseschriftsteller wahrgenommen worden. Fast unbekannt sind dagegen die »Apokryphen« sowie die politischen und literarischen Schriften, die in einer großzügigen Auswahl den zweiten Band der fantastischen Seume-Ausgabe füllen, die Jörg Drews, Seumes unermüdlicher, inzwischen verstorbener Anwalt, 1993 im Deutschen Klassiker Verlag herausgegeben hat. Diese Edition, so umfassend wie keine andere und abgerundet mit einer Sammlung der Briefe (der ersten, die es gibt), wird vom Verlag seit Langem zu einem erschwinglichen Preis noch einmal angeboten.

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