Kohlhaas und die Katholiken

Diese Woche laufen die Filmfestivals »Achtung Berlin« und »Film Polska«

  • Kira Taszman
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein Paar knutscht ungeniert vor der Kamera, dann schleckt der Regisseur seinerseits die Schauspielerin ab. Es folgt eine hemmungslose Knutschorgie von Kamera-, Tonleuten und der Rest-Crew des Filmsets. Die ausgelassene Szene spielt sich im Festivaltrailer der nunmehr neunten Ausgabe von »achtung berlin« ab - ihr Untertitel lautet passenderweise »mit Liebe gemacht«.

Als Mitknutscher tun sich unter anderem überregionale und lokale Filmgrößen wie Robert Gwisdek oder das Regisseurs-Bruderpaar Jakob und Tom Lass hervor. Letzterer stellt nach seinem Erfolg »Papa Gold« von 2011 in diesem Jahr bei »achtung berlin« seinen zweiten Film vor: »Kaptn Oskar«. Auch er kreist um Liebe und steht mit seinem niedrigen Budget für den Geist des Festivals, das sich im Wesentlichen der Promotion von jungem deutschem Kino verschreibt.

Oskar erholt sich gerade von der Beziehung zu seiner gewalttätigen Ex und hat mit seiner jetzigen Freundin ausgehandelt, keinen Sex zu haben. Doch die Abstinenz fällt ihm schwer, während sie wahllos mit älteren Männern schläft. So sieht man das Paar durch Berlin und Umgebung ziehen und albern: in der U-Bahn, in Parks oder auf der Straße. Tom Lass - er spielt auch die Hauptrolle - reduziert seine Tragikomödie auf die Gefühle und Befindlichkeiten seines merkwürdigen Gespanns. Es entspinnt sich ein lakonisches filmisches In-den-Tag-Hineinleben, von dem man sich immer mehr einlullen lässt und das weder mit Komik noch Ernst geizt.

Voraussetzung für die ca. 70 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme des Festivals ist nach wie vor, dass sie in Berlin oder Brandenburg gefilmt oder produziert wurden. Kein Wunder also, dass eine Komödie über den berühmtesten brandenburgischen Querulanten der Weltliteratur, Michael Kohlhaas, die Veranstaltung eröffnet. In »Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel« will ein Filmteam Kleists Novelle verfilmen. Doch während Kleist die Mittel des Gerechtigkeitsfanatikers hinterfragte, sprich dessen Gewalt, dreht sich beim Filmprojekt alles um die Finanzierung. Denn bayerische Produzenten und Förderer sind abgesprungen, und so improvisiert man tapfer in der Pampa des Freistaats: Pferde gibt es keine, also reitet der »Rosshändler« hochkomisch auf einem Ochsen durch die Landschaft. Ansonsten besteht die Freude an dem doch eher süffisanten Regiedebüt von HFF-Absolvent Aron Lehmann vor allem darin, »achtung berlin«-Bekannte älterer Ausgaben zu entdecken, etwa Heiko Pinkowski und Peter Trabner (aus »Dicke Mädchen« von 2012) oder Peter Fuith (aus »Rammbock«, 2010).

Auch eine weitere Klassiker-Adaption, »Woyzeck« von Nuran David Calis, gefällt sich mehr in ihrer pseudo-originellen Prämisse - das Drama ist ins heutige Wedding transponiert - als dass sie tatsächlich neue Impulse setzte. In dem Milieu deutscher und türkischer Kleinganoven vernimmt man wenig Büchner, dafür Fäkalinjurien und »Kanak Sprak«. Allein das Spiel von Tom Schilling in der Hauptrolle vermag das Martyrium des als Versuchskaninchen missbrauchten Helden aber glaubhaft zu vermitteln.

Muss man sich also in Acht nehmen vor »achtung berlin«? Kaum. Denn zum einen verspricht das Festival durch Publikumsgespräche, Partys oder Workshops auch außerfilmische Höhepunkte. Zudem bieten die Dokfilme manchen Denkanstoß, etwa Biene Pilavcis »Alleine Tanzen«. Die türkischstämmige Regisseurin flüchtete als Zwölfjährige wegen ständiger Prügel vor ihrer Familie in ein Heim. Ihr Trauma verarbeitet sie, indem sie den Dialog mit Geschwistern und Eltern sucht. Zuweilen platziert sie die Kamera dabei zu aufdringlich vor ihre Gesprächspartner, eine packende Bestandsaufnahme schafft sie dennoch.

»Alles, was wir wollen« von Beatrice Möller dagegen begleitet drei Frauen in den Dreißigern drei Jahre lang durch ihr Leben. Zwischen Abgrenzung von der Muttergeneration und der Orientierung im eigenen Arbeits- und Liebesleben über Rück- und Schicksalsschläge kommen die Heldinnen einem näher.

Das aufwühlende Gegenstück mit männlicher Besetzung gelingt Daniel Abma mit »Nach Wriezen«. Drei Ex-Jugendstraftäter beobachtet er bei ihrem Versuch, im zivilen Leben wieder Fuß zu fassen. Imo und Jano haben Drogen- und Gewaltdelikte begangen, Marcel dagegen einen Mord. In der Freiheit versuchen sie mit durchwachsenem Erfolg, Familien zu gründen und Arbeit zu finden. Wie eigene Unreife, aber auch unsensible Mitarbeiter des Jugendamts die Mühen der drei Außenseiter erschweren, dokumentiert der Film hautnah. Er lässt einen in Sorge um junge Männer zurück, deren Weg zur Reintegration noch steinig ist.


Sind polnische Filme düster,

deprimierend, katholisch gar? Durchaus. Aber beileibe nicht nur. Dass sich das polnische Kino mit seinen Komödien, Genre-, Historienfilmen und Sozialdramen daheim großer Popularität erfreut und international Preise gewinnt, hat sich beim deutschen Publikum aber leider kaum herumgesprochen - nicht zuletzt, weil hier zu Lande nur wenige polnische Filme einen Verleih finden.

Doch in Berlin ist alles anders. Hier startet nun zum 8. Mal das größte polnische Filmfestival außerhalb Polens, »filmPOLSKA«. Einmal pro Jahr präsentiert diese Filmoffensive mehrere Dutzend Spiel- und Dokumentarfilme - neue und alte, lange und kurze - welche das Filmschaffen jenseits der Oder in all ihrer Vielfalt zeigen.

Wie präzise eine Generation jüngerer polnischer Filmemacher ihre Gesellschaft zwischen Turbokapitalismus, sozialer Verwahrlosung, sozialistischem und kirchlichem Erbe seziert, sah man bereits auf der letzten Berlinale.

So zeigt filmPOLSKA auch das bereits dort präsentierte aufrüttelnde Sozialdrama »Baby Blues« der 30-jährigen Katarzyna Roslaniec. Es erzählt von zwei Teenagern, die Eltern werden und mit der Erziehung ihres Kindes komplett überfordert sind. Sie sind selbst noch große Kinder und wollen an der Spaß- und Konsumgesellschaft teilhaben. Die fatale Kette von Ereignissen bis zur finalen Katastrophe schildert Roslaniec als einen Teufelskreis aus Verlassensein, Hilflosigkeit, aber auch unfassbarer Naivität.

Mit dem heißen Eisen von Homosexualität in der katholischen Kirche befasst sich dagegen Malgorzata Szumowskas Drama »Im Namen des…«. Hier beeindruckt vor allem die Schilderung der trostlosen Provinz mit ihrem Hinterwäldlertum, ihrer Aggressivität und Intoleranz. Ob sich die angestaute Spannung gegen den schwulen Priester entladen wird oder nicht, macht den Reiz dieses mit Andrzej Chyra glänzend besetzten Films aus.

Ein weiterer polnischer Star, Marcin Dorocinski, spielt die Hauptrolle in Michal Wazniaks Historien-Thriller »Oblawa« (Manhunt). Als Mitglied einer Gruppe von in den Wäldern hausenden Partisanen erschießt Wydra 1943 polnische Kollaborateure. Doch als er einen Bekannten aus Kindheitstagen eliminieren soll, der für die Gestapo arbeitet, wird er mit seinem Lebenstrauma konfrontiert. »Manhunt« erzählt seine Geschichte extrem realistisch und in verschachtelten Rückblenden. Das Werk gehört zu den neueren polnischen Historienfilmen, die sich schonungslos und ideologisch unverfärbt mit der brutalen deutschen Okkupation ihres Landes im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Ohne seine Figuren zu verteufeln, schildert dieser harte Film, wie der Krieg auch Widerstandskämpfer zu Peinigern macht, enthüllt Gewissensbisse und Verrat. Doch er zeigt auch Ursache und Wirkung auf.

Historisch wie filmisch wertvoll ist auch eine diesjährige Retrospektive des Festivals im Zeughauskino: Anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des Aufstands im Warschauer Ghetto dokumentiert filmPOLSKA mit einer Handvoll Filmen jüdisches Leben in Polen während des Krieges sowie davor und danach. Zu sehen sind kurze Dokfilme, die sich mit den wenigen, meist von den Nazis propagandistisch aufgeladenen, Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto beschäftigen. Ein frühes Beispiel filmischen Gedenkens, Aleksander Fords »Grenzstraße« (1948), war wiederum der Aufsehen erregende erste polnische Spielfilm über die verzweifelte Revolte der Ghetto-Kämpfer.

Auch den mit 1,4 Millionen Zuschauern größten polnischen Kino-Hit von 2012, »Du bist Gott«, enthält »filmPOLSKA« Berlin nicht vor. Er erzählt die authentische Geschichte des Hip-Hop-Trios »Paktofonika«, das jenseits der Oder Kultstatus genießt. Aufstieg und Niedergang der Band und ihres charismatischen, depressiven Sängers »Magik« schildert Regisseur Leszek Dawid nicht chronologisch, bebildert kalte Kattowicer Plattenbausiedlungen oder Fans in übervollen Clubs. Weit entfernt von White-Trash-Kitsch vermittelt der Film die Tragik einer talentierten Band, die wegen Missmanagements die Früchte ihres Ruhmes nie ernten konnte.

Doch nicht alles ist düster im polnischen Kino: Wer Lust auf freche Anarchie hat, der genieße die Kurzfilme der jungen polnischen Independent-Szene in der Reihe »Podlasie atakuje!«.

18.4. bis 24.4. in den Hackeschen Höfe Kinos, Arsenal, Zeughauskino, fsk u.a.; www.filmpolska.de
Bis 24.4. im Babylon-Mitte, FaF, Passage Neukölln; www.achtungberlin.de

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