Weshalb sprecht ihr nur über euch?

Kommerziellen Alpinismus gäbe es ohne Träger nicht - doch den Arbeitern am Berg schlägt kolonialistische Arroganz entgegen

  • Martin Krauß
  • Lesedauer: 7 Min.
Am 29. Mai 1953 bezwangen Tenzing Norgay und Edmund Hillary den Mount Everest. Zuvor hatte der Umgang der britischen Expedition mit ihren Trägern zu deren Protest geführt. Kein Einzelfall: 60 Jahre später finden die Arbeiter am Berg noch immer nicht gebührende Anerkennung.

Kondition und Kolonialismus hätten nur ein bisschen stabiler sein müssen, dann wären die Erstbesteiger des Mount Everest (8848 m) Engländer und hießen Tom Bourdillon und Charles Evans.

1953 sollte nämlich pünktlich zu Königin Elizabeths Thron- die Bergbesteigung erfolgen, symbolträchtig von zwei Briten, damit das einstige Weltreich auf dem höchsten Gipfel der Erde noch einmal seine Größe demonstriert hätte. Bourdillon und Evans bildeten 1953 das erste Gipfelteam, doch die beiden schafften es am 26. Mai nur knapp unter den Gipfel, völlig erschöpft mussten sie umkehren.

Drei Tage später schwenkten statt ihrer der neuseeländische Bienenzüchter Edmund Hillary und der nepalesisch-indische Bergführer Tenzing Norgay die Flaggen Großbritanniens, der Vereinten Nationen, Nepals und Indiens. Die Symbolik war also nicht so eindeutig, wie man sich das in London gewünscht hatte.

In Tibet, wo Tenzing Norgay geboren wurde, in Nepal, wo er aufwuchs, und in Indien, wo er gelebt hatte, wurde sehr schnell ein Schlager populär, in dem es heißt: »Tenzing, das warme Herz des kalten Himalayagipfels / Tenzing, das Juwel der Welt«, der Refrain endet so: »Er musste Hillary durch die schwierigen Wege führen.«

Vor allem in Europa glaubt man aber fest daran, dass die Besteigung anders gelaufen ist. »Hillary und sein Sherpa Tenzing«, ist eine geläufige Formulierung. Als Sherpa gilt hier nämlich nicht jemand, der zu diesem in der Everestregion lebenden Gebirgsvolk gehört, sondern das Wort wird fälschlicherweise als Synonym für »Träger« verwendet. Es waren - und sind bis heute - nämlich die Sherpas, die mit ihren Trägerdiensten, dem Spuren, dem Verlegen von Fixseilen und dem Zubereiten von Tee und Suppe den europäischen und nordamerikanischen Extremalpinismus erst möglich machen.

Erst Ende April dieses Jahres meldeten die Agenturen eine »Schlägerei am Everest«. Drei europäische Alpinisten waren mit einer Gruppe von Sherpabergführern aneinandergeraten. Die Sherpas verlegten Fixseile für die vielen kommerziellen Everestbesteigungen, die dieser Tage anlässlich des 60. Jahrestags der Erstbesteigung anstehen. Sie forderten die Europäer auf zu warten, bis die Seile verlegt seien. Doch die ignorierten die Bitte, querten einfach den Weg und traten dabei wohl auch Eis los, das die Sherpas gefährdete. Einer der Europäer, der Schweizer Spitzenbergsteiger Ueli Steck, sagte später in einem Interview: »Wir zahlen eine Menge Geld, um hier zu sein. Warum sollten wir nicht klettern dürfen?« Die Tageszeitung »Nepali Times« hingegen sprach von einem »Clash of Cultures«, einem Aufeinandertreffen der Kulturen: »Die Sherpas riskieren ihre Leben in jeder Bergsteigersaison. Und sie haben sich über die anmaßende Haltung einiger Bergsteiger geärgert, die so von ihrem Ehrgeiz besessen sind, dass sie weder den Berg noch andere am Berg respektieren.«

Neu ist die Arroganz nicht. Die Eroberung des Himalaya begann 1895, mit dem gescheiterten Versuch des Engländers Albert F. Mummery, den Nanga Parbat (8125 m) zu besteigen. Mit ihm gingen - und starben - zwei Träger, Ragobir und Goman Singh. Über sie wurde kaum berichtet, auch wenn die Begeisterung für und die Berichterstattung über die höchsten Berge der Welt enorm zunahm. »Was macht der Maier am Himalaya?« lautete 1926 ein populärer deutscher Schlager.

Alle westlichen Expeditionen waren auf die Bergerfahrung der Einheimischen angewiesen: die der Sherpas, der Hunzas, der Tibeter, der Astoris und der Baltis. Deren alpine Kompetenz rührte daher, dass sie zu Handelszwecken oft die teils 6000 Meter hohen Pässe überschritten.

Während der Mount Everest bald nur noch als »British Mountain« galt, an dem sich neben den Engländern vor allem die Schweizer versuchten, avancierte der Nanga Parbat zum »Deutschen Schicksalsberg«. Eine deutsche Expedition von 1934, die in einer Katastrophe endete, bedeutete den Wendepunkt in der Geschichte der Sherpas. Zehn Menschen starben dort, vier der deutschen Alpinisten und sechs Sherpas, die als Hochträger für die Expedition arbeiteten. »Vor 1934 waren die Sahibs die paternalistischen Anführer. Sie kümmerten sich um ihre Träger, mal recht, mal schlecht«, heißt es in dem Buch »Schneetiger« des amerikanischen Publizisten Jonathan Neale. Doch nach der Katastrophe war den Sherpas klar: »Sie konnten es sich nicht mehr leisten, wie Kinder behandelt zu werden.« Immer öfter griffen sie zum Mittel des Streiks.

Die Deutschen hatten bei der Expedition 1934 ihren Trägern etwa 1800 Kalorien pro Tag zugebilligt - viel zu wenig für die von ihnen geleistete Schwerstarbeit. Außerdem hatten sie verlangt, dass die im Schichtbetrieb arbeitenden Träger ihre warmen Pullover, Handschuhe, Stiefel, Schneebrillen etc. stets untereinander tauschen. Dabei stellte - bis heute - für viele einheimische Träger der Verkauf der Ausrüstung nach einer Expedition einen wichtigen Teil des Lohns dar. Eine Expeditionsjacke beispielsweise brachte damals in Nepal den Preis eines kleinen Hauses.

Immer wieder wurde von Versuchen europäischer Alpinisten berichtet, Lohn einzubehalten oder am Bakschisch, dem Trinkgeld, zu sparen. Vor der erfolgreichen britischen Everest-Expedition 1953 war die gesamte Mannschaft in die britische Botschaft in Kathmandu eingeladen. Die westlichen Bergsteiger schliefen im Haus, die Sherpas brachte man in einer Garage unter, wo es keine Toiletten gab. Tenzing Norgay protestierte namens der Träger, aber seine Beschwerde wurde abgewiesen. Am nächsten Morgen gingen die Träger aus Protest auf die Straße und urinierten vor das Haus. »Es machte die Leute in der Botschaft richtig sauer, dass ihnen so eine Lektion erteilt wurde«, schreibt Tenzing in seiner Autobiografie. »Aber ich glaube, niemand hat da allzu sehr aufgepasst.«

Nach dem Erfolg von Hillary und Tenzing warnte die britische High Commission, die die Interessen des Vereinigten Königreichs in Delhi vertrat, in einer Depesche nach London davor, dass es »Elemente in Kathmandu«, der Hauptstadt Nepals, gebe, die Tenzings Erfolg »als Triumph der asiatischen Rasse über Europa« präsentieren könnten.

Die kolonialistische Arroganz zeigte sich nicht nur bei Briten und nicht nur bei Vertretern der sogenannten höheren Schichten. Der österreichische Bergsteiger Fritz Moravec, der in der sozialistischen Naturfreundebewegung aktiv war, berichtete einmal stolz, wie er 1968 als Expeditionsleiter einen Trägerstreik unterdrückte. Die Träger forderten von ihm einen Ruhetag und mehr Geld. »Ich blieb diesen Forderungen gegenüber hart und ließ den Trägerobmann sagen: ›Kein Mann bekommt heute seinen Lohn, und ich teile heute auch keine Verpflegung aus.‹ Kurze Zeit später war die Situation bereinigt.« Dass am nächsten Tag 68 seiner Träger wegen Krankheit ausfielen, irritierte Moravec nicht.

Mit der Kommerzialisierung gerade des Everestalpinismus hat sich die Situation der einheimischen Träger verändert. Einigen gelang der soziale Aufstieg, sie arbeiten als Bergführer und bringen viele Klienten auf Achttausender. »Sherpa Climber«, wie sie in Nepal genannt werden, genießen dort ein hohes Renommee. Aber in der westlichen Welt gelten sie bis heute nicht als Akteure der Alpingeschichte.

In den 1990er Jahren fand im berühmten Himalayan Mountaineering Institute in Darjeeling, das lange Zeit von Tenzing Norgay geleitet wurde, eine Konferenz statt. Europäische und amerikanische Bergsteiger tauschten dort ihre Erfahrungen aus. Jonathan Neale, der dabei war, berichtet vom Wutausbruch zweier Nepalis: »Und was ist mit den Sherpas? Wir haben die Lasten getragen! Was ist mit uns? Weshalb sprecht ihr nur über euch? Ohne die Sherpas hättet ihr das nie erreicht.«

Dieser Wutausbruch hat so wenig bewirkt wie 1953 das Urinieren vor der britischen Botschaft. Als im Jahr 2000 der RTL-Quizmaster Günther Jauch zum ersten Mal einen Millionär in seiner Sendung küren konnte, lautete die entscheidende Millionenfrage: »Mit wem stand Edmund Hillary 1953 auf dem Gipfel des Mount Everest?« Antwort C, »Tenzing Norgay«, war richtig. Ob eine Frage nach Sir Edmund Hillary als ähnlich schwierig eingestuft worden wäre, darf bezweifelt werden.

Von Martin Krauß ist soeben erschienen: »Der Träger war immer schon vorher da: Die Geschichte des Wanderns und Bergsteigens in den Alpen«. Verlag Nagel & Kimche, München. 224 S., 19,90 Euro

Hilfe für 
die Arbeiter am Berg

Es war der 7. Juni 1922, die Mitglieder einer englischen Expedition waren bereits bis kurz unterhalb des Nordsattels des höchsten Bergs der Erde vorgedrungen. Doch der Mount Everest ließ sich auch an jenem Frühsommer-Mittwoch noch nicht bezwingen – eine Lawine donnerte die Kalksteinwände der Gipfelpyramide herab und erfasste die Seilschaft. Sieben Menschen starben: Norbu, Lhakpa, Pasang, Pema, Sange, Dorje und Temba.

Mit ihren Namen beginnt die derzeit vollständigste Liste der Toten am Everest. Weltweit sind Tausende Arbeiter am Berg beschäftigt: Sie schleppen Expeditionsmaterial über felsige Grate, verlegen Seile, führen Bergsteiger, die sich die Angebote der Trekkingagenturen leisten können; sie schaffen Bier für die kleinen Bars in den Basislagern der begehrten Gipfel heran, beladen mit Kartons und ganzen Rucksack-Bündeln auf ihren Schultern. Tageslöhne von ein paar Euro sind dabei schon ein Glücksgriff, die Konkurrenz der Träger ist vor allem in den jeweiligen Gipfelsaisons groß.

Wo Bergtouristen ihre neuen 500-Euro-Schuhe ausprobieren, hasten die Träger nicht selten in Plastiklatschen zum nächsten Camp voraus. Das gilt nicht nur für die Kolonnen von Trägern auf dem »Everest Highway« zum dortigen Basislager. Auch am Kilimanjaro in Tansania, wo jährlich Tausende Touristen versuchen, den höchsten Berg Afrikas »zu machen«, stecken die Füße der Träger oft in alten Halbschuhen, mit Plastiktüten notdürftig gegen die Nässe geschützt. Viele haben nicht einmal Handschuhe und Mütze, obwohl Frost, Eisnebel und Sturm auch auf dem »Dach Afrikas« keine Seltenheit sind.

Schlechte Ausrüstung, harte Arbeit, widrige Bedingungen: Immer wieder sterben Träger am Berg. Und es sind nicht immer nur Naturgewalten wie Lawinen, die ihnen das Leben nehmen. Als im Herbst 2002 an einem einzigen Tag am Kilimanjaro drei Träger aufgrund mangelnder Ausrüstung und der Höhenbelastung starben, sorgte das für ein paar Schlagzeilen. Wirklich dauerhaft kümmern sich aber allenfalls ein paar Nichtregierungsorganisationen um die »Porter«.

Was in Tansania die Kilimanjaro Guides and Porters Union versucht – nämlich soziale und andere Mindeststandards für die Beschäftigung von Trägern bei den Reiseveranstaltern durchzusetzen – , tut weltweit die 1997 von Jim Duff gegründete International Porters Protection Group IPPG. Der US-Amerikaner hatte im Himalaya selbst miterleben müssen, wie ein an plötzlichen Symptomen der Höhenkrankheit leidender Träger von seinen Chefs kurzerhand ausbezahlt und dann allein auf den Abstieg geschickt wurde – und starb.

Die IPPG hat einiges erreicht, sie hat die Gründung von Gesundheitsposten initiiert und bemüht sich um Ausbildung für die Träger. Andere NGO haben Empfehlungen für Höchstlasten durchgesetzt oder ethische Richtlinien formuliert. Es sei zuletzt »weniger üblich geworden, Porter zu sehen, die unzureichend ausgerüstet und untergebracht« seien, heißt es bei der Organisation. Das ist nicht viel, aber es ist ein Anfang.

Von Tom Strohschneider

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