Kein Wenn und Aber

Von der Bernauer Konklave zum Politbürobeschluss über das NÖS

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwei Monate lang, von Ende März bis Ende Mai, war in Bernau bei Berlin von einer kleinen Gruppe von Experten ein ökonomisches Reformprogramm entworfen worden, das bis 1970 das Wirtschaftsleben in der DDR bestimmen sollte, dann demontiert wurde und in Vergessenheit geriet - bis sich mancher im letzten Jahr der DDR wieder darauf besann.

Beauftragt hatte die Experten Erich Apel. Er war von Walter Ulbricht, der auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 eine Wirtschaftsreform angekündigt hatte, zum Chef der Staatlichen Plankommission ernannt worden. Informiert war auch Günter Mittag, seit Anfang 1963 Leiter des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro. Der Arbeitsgruppe gehörten Vertreter des zentralen Parteiapparates und der wirtschaftslenkenden Institutionen sowie Wirtschaftswissenschaftler an. Neben dem stellvertretenden Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Werner Halbritter, der die »Arbeitsgruppe Bernau« leitete, war der bedeutendste Kopf dieser Gruppe der Wirtschaftsprofessor Herbert Wolf, seit Anfang 1963 Vize-Direktor des Ökonomischen Forschungsinstitut der Plankommission.

In dem im Bernauer Stadtforst gelegenen Domizil sollten die Experten nicht nur ungestört arbeiten, sondern auch vor Einmischungen der Reformskeptiker und Reformgegner geschützt sein. Die Halbritter-Gruppe war sich der Schwierigkeit ihres Auftrages bewusst - konnte dieser doch als Affront gegenüber der mit Stalins »Kurzem Lehrgang« kanonisierten Politischen Ökonomie aufgefasst werden, die als Triebkraft der Wirtschaft allein die »Schöpferkraft der Massen« anerkannte. »Entweder erhalten wir alle eine Parteistrafe, dass wir uns nicht wieder finden - oder einen großen Orden!«, ließ Halbritter seine Gefährten wissen.

Als erstes erarbeitete die Runde eine kritische Einschätzung der bisherigen Praxis der Leitung und Planung der Volkswirtschaft. Das einzelbetriebliche Interesse verzerrende, bisher übliche zentral vorgegebene Entlohnungs- und Prämiierungssystem bewirke »Tonnenideologie«, die zu Materialverschwendung führe. Zur Verbesserung der Qualität und Effektivität der Produktion sollte nach Auffassung der Bernauer Arbeitsgruppe die Lenkung betrieblicher Initiative über ein »in sich geschlossenes System ökonomischer Hebel« treten, verbunden mit einer deutlichen Verringerung der zentral vorgegebenen Plankennziffern. Zum Abschluss der Konklave lag ein 123 Seiten umfassendes Papier vor. Um den Bruch mit dem Lenkungssystem der 1950er Jahre deutlich zu machen, erhielt das Reformwerk die Bezeichnung »Neues Ökonomisches System«.

Über die »Bernauer Konklave« hatten Presse und Rundfunk der DDR nichts verlauten lassen. Die Resonanz auf die Ankündigung möglicher Veränderungen auf dem VI. Parteitag war bescheiden ausgefallen: »Nicht wenige Genossen standen im Bannkreis alter, administrativer Wirtschaftsmethoden und des Ressortgeistes«, resümierte Ulbricht im Frühjahr. Apel sekundierte ihm, als er feststellte, dass in der Staatlichen Plankommission ein großer Teil der Mitarbeiter die Reformaussagen des Parteitages »noch gar nicht richtig verdaut« hätte. Das »Bernauer Papier« sollte dieses Schicksal nicht erfahren. Am 11./12. Juni 1963 wurde es im Politbüro behandelt. Es sollte auf einer Wirtschaftskonferenz in Berlin am 24./25. Juni vorgestellt werden. Hierzu eingeladen wurden Betriebsleiter, Mitarbeiter zentraler und regionaler Wirtschaftsinstanzen, Parteifunktionäre, Ökonomen.

Das Hauptreferat hielt Ulbricht. Für die Diskussion war ungewöhnlich viel Zeit anberaumt worden. Es kamen 23 Redner zu Wort, darunter Manfred von Ardenne, aber auch zwei ausgesprochene Reformskeptiker: Politbüromitglied Alfred Neumann und Finanzminister Willy Rumpf, die sich teils zustimmend, teils skeptisch äußerten. Das Schlusswort hielt Apel. Er betonte, »dass das neue ökonomische System der Planung und Leitung nicht verglichen werden kann mit einzelnen praktisch-organisatorischen Maßnahmen, die man sozusagen zur laufenden Reparatur und Instandhaltung einer Wirtschaftsverwaltung braucht«. Er forderte seine Zuhörer auf, die Reformideen ernst zu nehmen und sich von Skeptikern nicht irritieren zu lassen. »Es gab in der Periode der Vorbereitung dieser Konferenz Diskussionen und Auseinandersetzungen über die einzelnen dargestellten Fragen. Es gab darüber hinaus aber auch Stimmen, die unter dem Deckmantel allgemeiner Hinweise auf theoretische Sätze ihr Unvermögen verbergen wollten, sich vom Alten, Überlebten, untauglich Gewordenen zu trennen.« Apel schloss mit dem eindringlichen Aufruf: »Jetzt kann es kein ›Wenn‹ und ›Aber‹ zu den ausdiskutierten Grundfragen mehr geben.«

Das nach der Konferenz vom Politbüro verabschiedete Reformprogramm wurde unter dem Titel »Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« als Broschüre veröffentlicht, die nicht im Direktivstil verfasst war, sondern »in einer volkstümlichen, massenverbundenen Sprache«, wie es sich Apel wünschte. Die Broschüre enthielt auch die Diskussionsbeiträge der Wirtschaftskonferenz.

Apel war sich bewusst, dass die Wirtschaftsreform ein offenes Ansprechen der Probleme in anderen Gesellschaftsbereichen nach sich ziehen würde. Was von einigen in der SED-Führung als Sicherheitsrisiko wahrgenommen wurde. Sie gewannen Erich Honecker als Verbündeten und setzten 1971 der Wirtschaftsreform ein Ende.

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