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Ein altes Stück mit Zukunft. Wenn Castorf übernimmt

Acht Personen besuchen einen Autor: Diskussion mit Günter Grass im Berliner Ensemble

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Zwei Hände verkrallen sich in eine rote Fahne. Ziehen diese hart weg von blauer Himmelsfläche. Als brächte Rot Verfinsterung. So malte es Günter Grass, im Text zum 17. Juni 1953, in einem seiner besten Bücher: »Mein Jahrhundert«.

Grass und dieser Juni: ein Stück Theatergeschichte. »Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel« wurde 1966 am Westberliner Schillertheater uraufgeführt, vier Jahre später verfilmte Hans Lietzau das Stück für den SFB. Es ist die Geschichte eines berühmten Dichters und Regisseurs in der DDR, der Shakespeares »Coriolan« probt. In den drohenden Aufstand wider Roms Arroganz platzt Berliner Wirklichkeit: die aufständischen Arbeiter des 17. Juni erbitten den Beistand des großen Künstlers. Theaterprobe und Charakterprobe. Und Zerreißprobe. Pappkulissen und Panzergeräusche. Eine politische Parabel: Was ist eine Theorie wert, wenn sie nicht nur auftritt, sondern aufstampft?

Am Montag wurde der Film im Berliner Ensemble gezeigt. Er ist Theater, wie es ist, wenn man erst Jahrzehnte zu spät draufschauen darf. Kunst, die gleichsam zum »Archi-wahr« wurde. Aber das Stück, zwischen Shakespeare und Gegenwart, beweist nach wie vor Verknüpfungsgeschick und spricht brillant im Vers. Nach der Aufführung diskutierte ein neunköpfiges Meinungsensemble. Also: viel Film, viele Leute - und vier Stunden. Über jedem Diskutanten-Kopf, an die Wand gekreidet: der jeweilige Name. In der Mitte er. Über sich nur die Initialen: G. G. Es ging zunächst um b. b.

Brecht. Das Vor-Bild des inszenierenden »Chefs« im Stück. Der Lavierende, der listig Manipulierende, der geschmeidig Ausweichende. Brecht - der am 17. Juni »wie eine Eiche hinter der SED und ihrem Klassenkampfkurs« stand (Friedrich Dieckmann). Von dem, so Klaus Staeck, »doch weit mehr Courage zu erwarten war«. Auf den Knien von Wolfgang Thierse liegt dessen altes Lese-Exemplar des Grass-Stückes, von Freunden damals herübergeschmuggelt. »Mir gefiel, wie das Spiel diesen Brecht ins Zwielicht rückte - da er in der DDR doch wie ein Heiliger behandelt wurde«, dort, wo er der herrschenden Ideologie in jenen Kram passte, der Parteilichkeit genannt wurde.

Grass selbst betont, er habe nicht Brecht porträtiert, »ich habe auch mich gemeint«, also: den Intellektuellen in der Großgefahr des Gernegroßdenkers, mit »ständig latenter Überheblichkeit gegenüber der Wirklichkeit«. Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk sähe Grass' Stück für heute nur gerettet, wenn es »mehr als ein Zeitstück« sein darf. »Castorf soll übernehmen«, wirft Volker Schlöndorff ein. Das Stück, so Hörnigk, sei Gleichnis für »das Verhältnis von Intellekt und Macht in einer weltdramatischen Situation«. Ein Gedanke, der auf die Metropolen-Plätze heutiger Aufstände führt. »Wo wieder Steine geworfen werden, wie immer, wenn Panzer auffahren, wo also die Gewalt das letzte Wort hat und die Ohnmacht die letzte gekrümmte Gestalt ist«. Sagt Grass.

Friedrich Dieckmann, der große Essayist, ist in dieser Runde der große Wissende. Feiner Geist will bekanntlich nicht gestört werden, Wissen aber will gehört werden. Wissen siegt hier, entschlossen legt Dieckmann Hand ans Mikrofon, der ganze Körper bebt im Stoff. Dieckmann entfaltet in Minuten ein ganzes Weltall aus packenden Widersprüchen jener Zeit: die DDR, ein ungeliebtes Objekt des Kreml, nützlich gegen das nachfaschistische Westdeutschland, aber störend in Moskaus Wunsch nach einem demokratischen Ganzdeutschland. Hinter den Kulissen also: Intrigen, Inthronisationen, Interventionen, Interessenkriege zwischen Gegnern, die einander Genossen nannten. Tragik und Witz zugleich: Russische Panzer stärkten einen Staat, den man lange Zeit loswerden wollte. Wir nannten das deutsch-sowjetische Freundschaft und schrieben so eine weitere Lüge in die Verfassung.

Daniela Dahn - allem Einverständnis ist sie stets mit strenger Freude eine Widerpartnerin - erinnert an große Streiks in den Westzonen, nach dem Krieg; US-Panzer fuhren auf, neun Millionen Menschen gingen auf die Straße; wo demonstriert werden durfte, da achteten die Westmächte scharf darauf, dass den hautnahen sozialen Forderungen keine weitgreifende politische Programmatik beigesellt wurde.

Dahn, seit Jahren die unbestechliche Recherchekünstlerin mit dem Fakten-Füllhorn, ist hier die Gegengewichtige: Der 17. Juni sei ein Datum im Kalten Krieg gewesen, der an zwei Fronten ideologische Scharfschützen gehabt habe, nicht nur an einer. Sinn von Erinnerung könne nur sein, jede »einseitige Geschichtsschreibung zu überwinden«. Also bestimmte Daten als Momente einer gemeinsamen Entwicklung zu begreifen, in denen jede Seite aus sehr praktischen Interessen heraus handelte, hudelte, heuchelte, hoffte, hetzte, händelte. Ja, sagt Grass, im Westen sei der 17. Juni zum Feiertag verklärt worden, ein Ausflugstag mit Verkehrstoten, wo dagegen im Osten »erschossen und hingerichtet« worden war. Wohl wahr: Gerade die jeweilige »Knüppelgewalt« sei hüben und drüben »von gesamtdeutscher Qualität« gewesen. Aber: Knüppel im Kapitalismus seien »normal«, Knüppel »einer Volkspolizei gegen das Volk« jedoch, das könne sich eine sogenannte neue Gesellschaft nur um den Preis »eines hohen Bedeutungsverlustes« leisten. Also gar nicht. Oder untergehen.

Intellektuelle und das Volk. In Ungarn war das zu Teilen und Zeiten eine kritische Liaison. In Prag ein gemeinsamer Treibsatz. In Polen ein Bund, der mutig solidaritätlich wurde (daran erinnert, gleichsam leibhaftig, der Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth). In der DDR aber Zaudern und Zagen voreinander - man wollte Geschichte nie als den Ernst schönster Wiedervereinigung von Geist und Klasse haben, man wählte immer gleich die Rückkehr der Geschichte als Farce: Am Ende, 1989, unterzeichneten sogar Regime-Höchste den Aufruf »Für unser Land« - statt Schuldbewusstsein noch immer jenes Selbstbewusstsein, das von der geradezu lustvollen Verkennung der Lage kommt.

Die lange Geschichte jener Verkennung, auch darüber erzählt der 17. Juni. Thierse nennt das SED-Regime ein »Hoffnung zerstörendes System«; eine Folge des zusammengeschlagenen Aufstandes sei die »Traumatisierung« gewesen: im Schlepptau die beiden Hauptpraktiken so Vieler, um durch den Sozialismus zu kommen: »Anpassung oder Unterwerfung«. Staeck spricht von der »Routine des Überlebens.« So siechte die Sache, die sich schon am Start zum Sieger erklärt hatte. Eine Rechnung ohne den Wirt, also ohne das, was wird, wenn bei den abgearbeiteten Essern vor eingebrockter Suppe auch die Lust wächst, reinen Tisch zu machen.

Staeck entfloh früh der DDR. »Eine Diktatur! Wer nach dem 17. Juni noch Illusionen hatte, tat mir leid!« Von Privilegien geht seine Rede, vom Handeln Vieler wider besseres Wissen. Ist sie das wieder, die Einseitigkeit einer Geschichtssicht, die eindeutig festlegt, auf welcher Seite Aufrichtigkeit zu platzieren wäre? Hörnigk widerspricht: »Soll ich wider besseres Wissen gelebt, mich bewusst belogen haben?« Er verweist auf alle, die mit redlicher Absicht in der DDR blieben, reibungstapfer und ruhelos.

Ja, viel Film, viele Leute, vier Stunden. Die Augen probten erfolgreich das Aufbleiben. Es trommelte: Parteiendiktatur und Panzer. Lust aufs Liberale lag in der dicken Luft. In der Mitte der Sitzreihe also G. G. Wortsicher. Souverän. Fast weise. Ein bisschen schwerhörig nur, wenn Moderator Dieter Stolz, Grass-Lektor im Steidl-Verlag, das Wort an irgend wen weitergeben wollte. Da war Grass heiter stur einfach schneller. Volksaufstand? Nein, ein Arbeiteraufstand war das damals. Aber, so Thierse, es hätten an 700 Orten eine Million Menschen teilgenommen. Grass: »Na, es wird doch wohl eine Million Arbeiter im Arbeiterstaat gegeben haben!« Arbeiter, das letzte Wort. Grass zitiert Albert Camus: Am 17. Juni 1953 habe sich die deutsche Arbeiterklasse »rehabilitiert«. Man denkt an Heiner Müller, der sagte, Hitlers Blitzkriegtechnik sei »eine Spitzenleistung der deutschen Arbeiterklasse« gewesen.

Im Grass-Stück taucht es auf, auch in der Diskussion danach: Brechts Gedicht »Böser Morgen«. Darin »Finger, auf mich deutend/ Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und/ Sie waren gebrochen./ Unwissende! Schrie ich/ Schuldbewußt.« Erschütternder geht es nicht: Immer muss, wer mehr weiß, auch mehr kämpfen? Immer muss, wer klüger ist, mehr wagen? Immer muss, wer die Wahrheit erfuhr, mehr leiden? Schuldig wird, wer nicht handelt, so wie auch schuldig wird, wer handelt? Wer soll das aushalten außerhalb der Kunst? Dialektik ist nur, wenn der, der sie ausspricht, einen Schmerz ausspricht.

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