Hoch auf dem roten Wagen

Regina Stötzel über den CSD in Berlin und den Kampf gegen Diskriminierung im Alltag

Einen prächtigen Festwagen auf dem Weg zum Brandenburger Tor, geschmückt in sattem Karlsruher Karmesinrot, mit einer fröhlich winkenden Besatzung in gleichfarbigen Roben und Kappen könnte man sich wunderbar vorstellen. Vielleicht würden die Herren und Damen etwas steif wirken für einen so ausgelassenen Umzug, ein wenig gewohnheitsmäßig aufgereiht. Doch beim diesjährigen Christopher Street Day (CSD) in Berlin wären sie auf dem ersten Wagen genau am richtigen Platz: Die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht haben in den letzten Monaten hierzulande am meisten erreicht für die Gleichstellung von Lesben und Schwulen – zumindest für jene, die in eingetragenen Partnerschaften leben.

Nach der Adoption von Adoptivkindern der Lebenspartnerin/des Lebenspartners muss nach dem jüngsten Urteil auch das Ehegattensplitting in Homoehen ermöglicht werden. Das ist einerseits eine Selbstverständlichkeit, Ehe ist Ehe. Andererseits können sich vor allem jene Paare über Steuerersparnisse freuen, bei denen das Lohngefälle zwischen den Partnern groß und mindestens ein Lohn sehr hoch ist. Es wird also keineswegs die übliche Richtung der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums auf den Kopf gestellt, was die Freude über den kleinen Fortschritt trüben mag. Dass Konservative dennoch die heilige Ehe und Familie in Gefahr und den Untergang des Abendlandes bevorstehen sehen, zeigt immerhin, dass die politische Gegenseite ebenfalls mit Widersprüchen leben muss. So wurde auch die CDU offiziell vom diesjährigen Berliner CSD ausgeschlossen, um nicht »quasi gegen sich selbst« zu demonstrieren, wie es der Geschäftsführer des CSD e.V. formulierte. Vom Ausschluss ausgenommen sind die Gruppierung Lesben und Schwule in der Union sowie weitere Personen, die sich bezüglich der Forderungen des CSD von der Union abgrenzen – aber als deren Mitglieder trotzdem gegen sich selbst demonstrieren.

Doch sind die eigenen Widersprüche, Gegensätze und Fragen immer die schwierigsten. Hat nicht die internationale Solidarität in Anbetracht der nach wie vor tödlichen Gefahren für Lesben, Schwule, Bi-, Trans-, Intersexuelle und Queere in vielen Ländern und aktueller Verschlechterungen von deren Lage wie etwa in Russland Vorrang vor den Feinheiten der deutschen Gesetzgebung? Ist in Deutschland der Kampf gegen Diskriminierung im Alltag und die Gleichbehandlung von Menschen aller Geschlechter und Lebensformen nicht viel wichtiger als die letzte Bastion der Heteroehe zu schleifen? Schmettert man also mit dem kommerziellen CSD den offiziellen Song »Ja, ich will … was mir gehört!« oder arbeitet man mit dem alternativen Kreuzberger »Transgenialen CSD« daran, »dass alle /weiß/-dominierten, linken, queeren Strukturen und Räume für sich die Chance nutzen, sich damit auseinanderzusetzen, wie und wodurch Ausschlüsse entstehen, und wie sich das ändern lässt«? Und ergibt es irgendeinen Sinn, dass sich heterosexuelle Paare – so ein kursierender Vorschlag – in der Öffentlichkeit nicht mehr küssen, um ihre Solidarität mit all jenen zu bekunden, die sich das aus den bekannten Gründen verkneifen?

Zumindest Letzteres darf getrost verneint werden. Dann doch lieber ein solidarisches Kiss-In. Wobei wir quasi wieder beim CSD wären – beim kommerziellen wie beim transgenialen. Viel Spaß!

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