Nicht als Verbrecher abstempeln

Rund 1100 Menschen suchten Rat: Erste Bilanz der Beratungsstelle für Heimkinder der DDR

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 3 Min.

Zwischen ein und zwei Prozent der einstigen DDR-Heimkinder haben sich bei der für sie zuständigen Beratungsstelle in Potsdam gemeldet. Während der am Donnerstag vorgestellten Bilanz nach einem Jahr waren erstmals auch von offizieller Seite differenzierte Bewertungen der DDR-Heimsituation zu vernehmen.

Brandenburgs Jugendministerin Martina Münch (SPD) sprach von Leid und Unrecht, von Traumatisierungen und Verletzungen, welche den Kindern vor allem in DDR-Spezialheimen angetan worden sei. Die Opfer müssten bis heute mit Zurücksetzungen und Stigmatisierung fertig werden. Der ihnen angebotene »Fonds Heimerziehung in der DDR 1949 bis 1990« könne für lebenslange Benachteiligung zwar nicht entschädigen, aber konkrete Unterstützungen gewähren.

Rund 75 000 Kinder rund Jugendliche auf dem Gebiet des heutigen Brandenburgs haben zu DDR-Zeiten mindestens eine Zeit lang in Kinderheimen verbracht, hinzu kommen etwa 20 000 Insassen von Spezialheimen, wie Durchgangsheimen, Heime für schwer Erziehbare und Jugendwerkhöfe. Bislang registrierte die Beratungsstelle 1126 Ratsuchende, mehr als 450 Hilfevereinbarungen seien abgeschlossen worden. Obwohl die Zahl der Berater im März auf drei erhöht worden sei, könnten inzwischen nur noch Beratungstermine für das Jahr 2014 angeboten werden.

Noch sei die Möglichkeit der Unterstützungsgewährung nicht allen Betroffenen bekannt. Zwar bekommen einstige Heimkinder kein Geld in die Hand, doch werden laut Berater Martin Gollmer »sehr individuell zugeschnittene« Unterstützungsmaßnahmen finanziert. Eingedenk der Tatsache, dass die Antragsteller Zeit ihres Lebens auf vielen Feldern benachteiligt waren, können Qualifizierungen, Studiengebühren, das Absolvieren einer Fahr- oder Abendschule, Jahreskarten für öffentliche Verkehrsmittel, der Kauf eines Fahrrads oder Autos finanziert werden. Im Einzelfall stehen dafür bis zu 10 000 Euro bereit. Wenn jemand nachweisen könne, dass er in Heimen zur Arbeit gezwungen worden war, werden ihm 300 Euro für jeden dieser Arbeitsmonate ausgezahlt.

Auf nd-Nachfrage, weshalb die DDR-Heime heute einzig unter dem Aspekt von Verbrechen gesehen und in der Öffentlichkeit präsentiert werden und die dort beschäftigten Erzieher pauschal am Pranger stehen, warf der Vertreter einer örtlichen Zeitung ein, es solle nicht um die »Täter« gehen, sondern um deren Opfer. »Erzieher sind keine Täter«, sagte Ulrike Poppe. Erzieher hätten versucht, »das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen«. Im Heimbereich sei die Fluktuation hoch gewesen, weil Erzieher oft ihre Ziele nicht haben durchsetzen können. Denn zu DDR-Zeiten sei schon das gesamte Heimkonzept problematisch gewesen, Kinder seien wesentlich stärker ausgeliefert gewesen als heute. In sogenannten Durchgangsheimen habe es Isolierzellen gegeben, in die Kinder oder Jugendliche auch eingesperrt worden sind.

Ministerin Münch fügte hinzu, es gehe nicht darum, alle dort Beschäftigten als Verbrecher abzustempeln, sondern auch hier um Differenzierung. Dabei verwies sie auf das nd-Interview des SPD-Abgeordneten Werner-Siegwart Schippel, der darin seine Jahre als Kind von DDR-Heimerziehern geschilderte. Die Ministerin sprach von Kindern, die ihre Zeit im DDR-Heim als sehr positiv empfunden hätten und das heute auch in Briefen äußern. Der Fonds verfügt über 40 Millionen Euro, das Land Brandenburg beteiligt sich mit 3,22 Millionen. Neben den Beratungsgesprächen hilft die Anlaufstelle bei Aktensuche und Akteneinsicht sowie bei der Klärung biografischer Details.

Die Adresse der Beratungsstelle: Hegelalle 3, 14467 Potsdam. Tel.: 0331/23 72 92 17, E-Mail: anlaufstelle@lakd.brandenburg.de

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