»Ergenekon«-Prozess: Fragwürdiges Ende einer Verschwörung

Im türkischen Mammutprozess gegen 275 Angeklagte wirkten viele Beweise nicht überzeugend

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 2 Min.
In einem hermetisch abgeriegelten Sicherheitsgefängnis in der Nähe von Istanbul hat ein Strafgericht die »Ergenekon«-Verschwörer abgeurteilt.

»Ergenekon« soll eine regierungsfeindliche Geheimorganisation gewesen sein, die durch Terrorakte die Atmosphäre für einen Putsch gegen die gemäßigt islamische Regierung Erdogan vorbereiten wollte. In dem Hauptprozess gegen 275 Angeklagte wurde die Mehrzahl zu hohen Freiheitsstrafen oder zu »erschwerter« lebenslanger Haft verurteilt. Dies bedeutet, dass sie unter keinen Umständen begnadigt werden können. Nur 21 Angeklagte wurden freigesprochen. Zu den »Lebenslänglichen« gehören der ehemalige Generalstabschef Ilker Basbug, der Journalist Tuncay Özkan und der Vorsitzende der maoistischen Arbeiterpartei, Dogu Perincek. Zu 34 Jahren und 8 Monaten wurde der Ankara-Korrespondent der regierungskritischen Zeitung »Cumhuriyet«, Mustafa Balbay, verurteilt. Balbay war während seiner Zeit als Untersuchungshäftling ins türkische Parlament gewählt worden, durfte aber keinen Eid als Abgeordneter leisten. Seine Verwicklung in die Putschpläne wurde mit Dateien auf seinem Computer begründet. Balbay behauptete, er kenne diese Dateien nicht, sie könnten durch einen Virus platziert worden sein.

Ebenfalls im Gefängnis zum Abgeordneten gewählt worden war der ehemalige Rektor der Universität Ankara, Mehmet Haberal. Der Mediziner erhielt zwölfeinhalb Jahre Gefängnis, wurde aber nun nach gut vier Jahren Untersuchungshaft freigelassen.

Etliche der Verurteilten sind im Rentenalter, darunter eine größere Zahl pensionierter Offiziere. Viele haben zudem einen Ruf als stramme Nationalisten. So leugnete der nun zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilte Vorsitzende der Arbeiterpartei, Dogu Perincek, in der Schweiz den Völkermord an den Armeniern und wurde dort deshalb zu einer Geld- und Bewährungsstrafe verurteilt. Allerdings wirkten viele Beweise in dem Verfahren nicht gerade überzeugend.

So erhielt der pensionierte General der Gendarmerie zweimal lebenslänglich plus 99 Jahre Haft. Veli Kücük hatte den später ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink bedroht. Der Mord an Dink wird als Tat von »Ergenekon« gewertet, obwohl der verurteilte jugendliche Mörder Dinks nicht wegen »Ergenekon« verurteilt wurde. Der ehemalige Gouverneur von Istanbul, Muammer Güler, in dessen Amtszimmer Hrant Dink ebenfalls bedroht wurde, ist heute Innenminister.

Der ehemalige Generalstabschef Basbug, der lange mit der Regierung gut zusammengearbeitet hatte, erklärte zu seiner Verteidigung, dass er als Chef von 700 000 Soldaten es doch nicht nötig gehabt habe, auch noch eine bewaffnete Bande zu bilden.

Anlässlich der Urteile hat sich die türkische Armee erstmals seit Langem wieder einmal politisch geäußert. Der Hohe Militärrat erklärte, dass die behauptete Verbindung einiger Ereignisse »in keiner Weise« die Wirklichkeit widerspiegele. Zugleich betonte der Rat, dass die Armee zu ihrer Pflicht stehe. Mit dieser Aussage wollte der Militärrat wohl der Erklärung das Rebellische nehmen.

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