Hessen bremst die Inklusion

Eltern, Lehrer und Verbände kritisieren die Schulpolitik der Wiesbadener Landesregierung

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein breites gesellschaftliches Bündnis rechnet mit Hessens Inklusionspolitik ab - zwei Wochen vor der Bundestags- und Landtagswahl.

Gut zwei Wochen vor Bundestags- und der hessischen Landtagswahl wirft ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis in Hessen der amtierenden CDU-FDP-Koalition vor, verdeckt und offen die gemeinsame Erziehung und Bildung behinderter und nicht behinderter Kinder zu hintertreiben.

»Schwarzbuch Inklusion« heißt die 130-Seiten-Dokumentation, in der der Verein »Politik gegen Aussonderung - Koalition für Integration und Inklusion«, der Landesbehindertenrat, der Verein »Gemeinsam Leben Hessen« e. V., der Elternbund, die Landesschülervertretung, der Landesausländerbeirat und die Bildungsgewerkschaft GEW die Zustände an hessischen Schulen untersuchen und Einzelschicksale betroffener Schüler und Elternaufzeigen.

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hatte sich die Bundesrepublik Deutschland 2009 verpflichtet, das Recht auf Zugang zu einem inklusiven und hochwertigen Bildungssystem für alle sicherzustellen. Das bedeutet, dass behinderte Menschen nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen und ihr Besuch von Regelschulen durch angemessene Vorkehrungen und individuelle Unterstützung ermöglicht werden soll.

Während Bundesländer wie Bremen und Schleswig-Holstein bereits die Weichen für eine Auflösung der Förderschulen und Verteilung der Förderlehrer auf die Regelschulen gestellt haben, besteht Hessens Kultusministerin Nicola Beer (FDP) weiter auf Parallelstrukturen und den Erhalt von Förderschulen. Dabei, so die Liberale, solle allen Kindern aber auch der Weg in die Normalschule offen stehen.

Das »Schwarzbuch« spricht eine ganz andere Sprache. Die Verantwortlichen in Hessen widmeten sich demnach nur scheinbar der Inklusion und verfolgten tatsächlich andere, der Inklusion widersprechende Interessen, befinden die Autoren. Sie beklagen fehlende Mittel, Personalknappheit, hohe bürokratische Hürden für betroffene Eltern, die Beibehaltung von Bildungsprivilegien durch den Erhalt eines viergliedrigen Schulsystems und ein Zurücklassen von Schulkindern etwa durch erzwungene Klassenwiederholungen mit negativen Folgen für die persönliche Entwicklung.

Während die Politik auf der Vorderbühne propagiere, dass sich »alles ändern« solle, heißt es an einer Stelle, werde »auf der Hinterbühne realisiert, dass alles so bleibt, wie es schon immer im bundesdeutschen Bildungswesen war, und wenn dabei noch gespart werden kann, wird dies intensiv betrieben«. Auch das starke persönliche Engagement von Lehrern, die von einer Schule für alle überzeugt seien, werde »konterkariert«, wenn Schüler nur aus Geldnot in die Sonderschule überwiesen würden.

»Äußerst fragwürdig« sei die amtliche Definition und faktische Auslese, die entscheide, wer Förderschulen und wer Regelschulen besuchen solle, sagt Hella Lopez vom hessischen Elternbund: »Inklusiver Unterricht produziert Gewinner, nämlich selbstbewusste junge Menschen, die in ihrer Vielfalt und mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten unser Land bereichern werden.« Gerade auch für »normale« Kinder sei es »eine immense Bereicherung«, zu erfahren, dass ein Mitschüler mit Teilleistungsschwäche, Downsyndrom oder Autismus »nicht besser oder schlechter, sondern einfach nur anders ist, anders tickt und Aufgaben eben anders löst.«

Johannes Batton teilt diese Ansicht: »Bei den entsprechenden Rahmenbedingungen kann es gelingen, auch schwerbehinderte Kinder in Regelschulen gut zu fördern. Dies ist ein Gewinn für alle«, weiß der Förderschullehrer und GEW-Inklusionsexperte und aus 20 Jahren Schulerfahrung im gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern zu berichten. Nicht allerdings in der schönen Mitte Deutschlands, so seine Überzeugung: »Hessen verwirklicht nicht die Inklusion, Hessen vereitelt sie.«

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