Bravourstück eines Dickschädels
Bundesweite Notrufnummern gibt es nun seit 40 Jahren
Winnenden/Stuttgart. Am Anfang steht ein Schicksalsschlag. 1969 stirbt Siegfried Steigers Sohn Björn nach einem Unfall. Der Achtjährige hört in Folge eines Schocks zu atmen auf. Fast eine Stunde dauert es, bis endlich ein Rettungswagen eintrifft. Die Hilfe kommt zu spät. Damals schwört sich sein Vater aus Winnenden bei Stuttgart, das deutsche Rettungssystem zu verbessern. Rund vier Jahre später hat er die Notrufnummern 110 und 112 durchgeboxt. In dieser Woche wurden die dreistelligen Lebensretter 40 Jahre alt. Deutschlandweit rufen täglich mehrere zehntausend Menschen unter den Nummern Hilfe.
1969 gibt es noch keine Notrufsäulen oder gar Handys, einheitliche Notrufnummern existieren nur in wenigen Großstädten. Wer Hilfe braucht, muss meist die Nummer der nächsten Polizei oder Feuerwehr wissen - oder im Telefonbuch nachschlagen. Steiger will Abhilfe schaffen. Seine Hartnäckigkeit wird schnell legendär. Schon der damalige Bundesverkehrsminister Georg Leber (SPD, 1966-1972) wird laut der Steiger-Stiftung auf einem Zettel vor ihm gewarnt: »Vorsicht! Steiger ist sehr aggressiv.«
Dass ein zentraler Notruf zunächst als zu teuer gilt, passt dem Gründer der Björn-Steiger-Stiftung gar nicht. Als er mal konkret nachfragt, heißt es nur »nicht finanzierbar«. Deshalb erkundigt sich Steiger selbst bei der Post, was es kosten würde, in allen Ortsnetzen des Regierungsbezirks Nordwürttemberg die Notrufnummern 110 und 112 einzurichten.
Zehn Pfennig pro Person
»Eine Stunde später hatte ich den Preis«, erinnert er sich. 387 000 D-Mark (rund 197 869 Euro) fallen an. Bei vier Millionen Einwohnern sind das etwa zehn Pfennig pro Person. Steiger rechnet: Pro Landkreis muss er rund 20 000 Mark eintreiben. Also geht er Klinken putzen. Meist gibt es schon bei der 110 ein spontanes »Ja«. Wer zögert, dem verspricht Steiger die 112 für die Feuerwehr kostenlos dazu. Am Ende ziehen alle Kreise mit. Doch das reicht Steiger nicht: Nur ein bundesweites System macht Sinn, ist er überzeugt. Deshalb klagt er gegen das Land Baden-Württemberg auf Einführung der Nummern. Das geht zwar schief, doch die Medien werden aufmerksam. Der Druck wächst. Am 20. September 1973 ruft Bundespostminister Horst Ehmke (SPD, 1972-74) an: »Ich darf Ihnen sagen: Ihr Dickschädel hat sich durchgesetzt. Wir haben den Notruf beschlossen«, zitiert ihn der 83 Jahre alte Stiftungsgründer. Heute gilt die 112 sogar EU-weit.
Da die Rettungsleitstellen regional geführt werden, gibt es kaum Statistiken zu Notrufen. Die Bundesanstalt für Straßenwesen hat zuletzt 2009 Zahlen erhoben. Demnach gingen an einem Werktag bundesweit rund 35 000 rettungsdienstliche Anrufe bei den Leitstellen ein. Am Wochenende waren es im Schnitt 25 000 pro Tag. Knapp die Hälfte wurde vom Team als Notruf eingestuft. Heute dürften es noch mehr sein, denn die Zahl der Rettungseinsätze steigt seit Jahren. »Es ist sinnvoll, europaweit nur eine Nummer zu haben«, sagt eine Sprecherin des Malteser Hilfsdienstes. Die Leute wüssten, wo sie in Notlagen anrufen können, weil sie es über Jahrzehnte gelernt hätten. Besonders wichtig sei das bei dementen Senioren. »Das Kurzzeitgedächtnis geht als erstes verloren. Das, was die Leute früher gelernt haben, bleibt länger im Gedächtnis.«
Alle 42 Sekunden
Der Malteser Hilfsdienst rückte 2012 im Schnitt alle 42 Sekunden wegen eines Notfalls aus (gut 752 500 Mal). 2010 waren es noch alle 53 Sekunden. Die Johanniter hatten 2012 knapp 544 000 Notfallrettungseinsätze. Das Deutsche Rote Kreuz, das nach eigenen Angaben circa 60 Prozent der Einsätze in Deutschland fährt, hat keine bundesweiten Zahlen, geht aber von einigen Millionen aus.
In der Steiger-Stiftung wird unterdessen weiter am Notrufsystem gefeilt, erklärt Sprecherin Melanie Storch. Neues Ziel: eine Leitstellen-Plattform zur Ortung von Notrufen, bei der auch SMS-Notrufe für Sprach- und Hörgeschädigte möglich werden.
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