»Hinterher fühle ich mich immer wie ein neuer Mensch«

Für die Stadt Paris gehören öffentliche Duschen zum Menschenrecht auf Sauberkeit

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 6 Min.

Shampoo und Duschgel kommen zurück in die Plastiktüte, neben die schmutzige Kleidung. Billy ist frisch rasiert. Sorgsam kämmt er seine noch nassen Haare vor dem Spiegel. Er nimmt sich Zeit, als wäre er allein in seinem eigenen Badezimmer. Doch um ihn herum ist reger Betrieb in den öffentlichen Duschen der Rue des Haies, einer der drei meistbesuchten Einrichtungen der französischen Hauptstadt. Billy kommt regelmäßig hierher, seit zehn Jahren schon. »Ich könnte auf diesen Ort nicht mehr verzichten«, betont er. »Man kann sich gar nicht vorstellen, wie sehr einen der Schmutz aus der Gesellschaft ausschließt, bis man es am eigenen Leibe erfährt. Ich fühle mich jedes mal wieder wie ein neuer Mensch, wenn ich aus der Dusche komme.«

Man könnte denken, dass die »Bains-Douches«, wie die öffentlichen Duschen in Frankreich heißen, längst der Vergangenheit angehören - umfunktioniert in Modeboutiquen oder Nachtclubs. Doch mit der Wirtschaftskrise und der zunehmenden Verarmung haben die öffentlichen Duschen in den größeren Städten Frankreichs mehr denn je ihre soziale Funktion wiedergefunden und sind ausgelastet. Einige der 17 Einrichtungen in Paris sind sogar überlastet. Gut eine Million Mal pro Jahr wird hier geduscht. Ende 2013 will die Stadt eine Einrichtung wiedereröffnen, die derzeit saniert wird.

Die Retrofassaden der meisten dieser Gebäude stammen noch aus der Zeit, in der nur wenige Wohnungen über ein eigenes Badezimmer verfügten. Die »Bains-Douches« wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen, sie haben sich vor allem in den 1930er Jahren stark vermehrt und wurden nach dem Krieg modernisiert. Seit den 70ern hat die Besucherzahl stetig abgenommen, parallel zur Verbesserung der Wohnverhältnisse. Ende der 1990er Jahre nutzten in Paris nur noch 300 000 Menschen pro Jahr diese öffentlichen Einrichtungen. Die meisten waren Obdachlose, Ausländer ohne Papiere oder Roma, die sich zunächst eine Berechtigung beim Sozialamt abholen mussten. Anfang 2000 entschied der Pariser Bürgermeister, für die Duschen keinen Eintritt mehr zu verlangen und auch auf die Vorlage von Ausweispapieren zu verzichten, um so die Lebensbedingungen der Ärmsten etwas zu verbessern.

In der Einrichtung in der Rue des Haies stehen sich zwei Reihen enger Duschkabinen gegenüber. Sie sind alt und abgenutzt, aber sauber. Aus hygienischen Gründen ist alles vom Boden bis zur Decke weiß gefliest. In den Kabinen gibt es nur das Nötigste: einen Kleiderhaken, einen Spiegel, einen Betonsitz und einen Wasserhahn. Seife, Shampoo und Handtuch muss jeder Besucher selbst mitbringen. Ein Mann wartet auf eine freie Duschkabine. Theoretisch hat jeder Benutzer 20 Minuten Zeit, An- und Ausziehen inbegriffen. »Die dort ist frei«, ruft Ali, der städtische Angestellte, der sich hier um alles kümmert - vom Empfang der Besucher und der unentwegten Reinigung der Duschkabinen bis hin zur Schlichtung von Streitereien.

Eine Frau mittleren Alters verlässt ihre Kabine. Ein letzter Blick in den Spiegel in der Eingangshalle, und sie ist verschwunden. Die wenigsten halten sich hier länger auf als notwendig. »Die Unterhaltungen beschränken sich oft auf ›Bonjour‹ und ›Au revoir‹«, bestätigt Ali. »Viele schämen sich. Selbst wenn es darum geht, jemanden nach Duschgel zu fragen, merkt man, dass es den Leuten sehr unangenehm ist, hier sein zu müssen.«

Dennoch steigt die Zahl der Besucher stetig. Sie hat sich in den letzten zehn Jahren, seit das Duschen kostenlos ist, nahezu verdreifacht. »Wir sind wieder auf dem Stand der 50er Jahre angelangt«, bedauert Patrick Leclère, der zuständige Mitarbeiter in der Stadtverwaltung von Paris. Und die Tendenz hält an.

Was man für eine soziale Randerscheinung halten könnte, gehört für zahlreiche Pariser und Vorstädter zum Alltag. »Das Profil der neuen Besucher illustriert eine zunehmende Verarmung der Franzosen, nicht zuletzt der Mittelschicht«, heißt es von Seiten der Stadtverwaltung. »Seit reichlich zehn Jahren kommen immer mehr Studenten, Rentner und verstärkt auch unter der Armutsgrenze lebende Erwerbstätige«, bestätigt Ali.

Eine 2009 von der Pariser Stadtverwaltung durchgeführte Untersuchung zeigte, dass nur zwei Drittel der Besucher obdachlos oder »Einwanderer auf der Durchreise« sind. Das letzte Drittel - also etwa 300 000 Duschen pro Jahr - wird von Menschen in Anspruch genommen, die zwar eine Wohnung haben, dort aber unter prekären Bedingungen leben - meist ohne eigene Dusche. Nach Angaben der Hilfsorganisation »Abbé Pierre« leben in Frankreich rund zwei Millionen Menschen in Wohnungen ohne Dusche oder Toilette. Nach französischem Recht sind die für Ein-Zimmer-Wohnungen keine Pflicht, solange es einen Wasserhahn in der Kochecke gibt. Ob man sich auf diese Weise menschenwürdig waschen kann, bleibt dahingestellt.

In genau solchen Verhältnissen lebt die arbeitslose Annie, eine der wenigen Frauen hier - die öffentlichen Einrichtungen werden fast ausschließlich von Männern genutzt. »Ich habe weder Dusche noch Wasserboiler oder Toilette. Ich lebe von weniger als 500 Euro pro Monat. Aber ich dusche jeden Tag.« Als sie aus der Kabine kommt, kann Annie wieder lächeln: »Ich seife mich ordentlich ein, dann dusche ich lange ab und dann fange ich noch ein oder zwei Mal von vorne an«, verrät die 58-Jährige mit einem verschmitzten Lachen.

Auch in dem winzigen Zimmer unterm Dach, in dem der 74-jährige Ahmed wohnt, gibt es keine Dusche. »Was wollen Sie in neun Quadratmetern machen? Da passen gerade mal ein Bett und ein Gaskocher rein. Würden Sie da noch eine Dusche installieren lassen?« In dem kleinen Zimmer, das Gérard (58) mietet, gibt es zwar eine Dusche, »doch das Zimmer ist so klein, dass ich sie als Kleiderschrank nutze. Ich habe sonst keinerlei Platz, um meine Sachen aufzuhängen. Deshalb dusche ich mich hier - aber auch nur, weil das kostenlos ist. Ansonsten müsste ich eine andere Lösung finden.«

Wieder andere können ihre Strom- und Wasserrechnung nicht mehr bezahlen, wie Henri, für den eine warme Dusche in den eigenen vier Wänden »einfach zu teuer« ist. Oder sie sind Opfer skrupelloser Vermieter, die notwendige Reparaturen oder Sanierungen hinausschieben. In genau dieser Situation ist der 37-jährige Karim, ein Algerier ohne Aufenthaltsgenehmigung, der seit acht Jahren in Paris lebt und sich mit nicht deklarierten Gelegenheitsjobs über die Runden bringt. Seit mehreren Monaten kommt er zweimal pro Woche in die Rue des Haies. »Mein Wasserboiler ist kaputt. Der Vermieter will ihn nicht reparieren lassen, und ich kann nicht jeden Tag nur kalt duschen.« Als illegaler Einwanderer ist Karim dem Wohlwollen des Wohnungsbesitzers ausgeliefert. So wird selbst die elementarste Körperpflege zum Luxus.

Um genau dies zu verhindern, scheut die Pariser Stadtverwaltung keine Ausgaben. Ohne Beiträge von den Nutzern der Duschen zu kassieren, trägt sie seit dem Jahr 2000 die Kosten für Sanierung und Instandhaltung der Einrichtungen sowie die Beschäftigung des Personals. Auch die Nutzung der 400 voll automatischen öffentlichen Toiletten (»Sanisettes«) ist seit mittlerweile sieben Jahren kostenlos. Für das Budget der Stadt sind das zwar erhebliche Ausgaben, doch es handelt sich um eine Richtlinie der Kommunalpolitik des sozialistischen Bürgermeisters Bertrand Delanoë: Hygiene und Sauberkeit sind ein Menschenrecht und fallen somit in den Bereich der elementaren öffentlichen Dienstleistungen.

Die Stadtverwaltung berät derzeit darüber, ob sie den Service noch ausbauen soll. So könnten die öffentlichen Duschen in Zukunft an eine medizinische Notversorgung, eine Anlaufstelle für administrative Probleme oder einen Waschsalon gekoppelt werden. Auch andere Städte wie Lyon oder Nantes haben vergleichbare Überlegungen angestellt. Fest steht, dass der Besucherandrang in den öffentlichen Duschen in den kommenden Jahren nicht abnehmen wird.

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