Warum Teilchen Masse haben

Physikpreis geht an den Briten Peter W. Higgs und den Belgier François Englert für ihre nach 50 Jahren am CERN-Teilchenbeschleuniger LHC bestätigte Theorie

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist jedes Jahr das gleiche Spiel: Noch ehe die neuen Nobelpreisträger verkündet werden, versuchen Fachleute und Journalisten, deren Namen zu erraten. Meist ohne Erfolg. In diesem Jahr allerdings wurden zwei Männer ausgezeichnet, die auch auf vielen Vorhersagelisten ganz oben standen: der Brite Peter W. Higgs (84) und der Belgier François Englert (80). Beide hatten 1964 unabhängig voneinander ein Teilchen postuliert, um dessen Nachweis sich die Physiker danach jahrzehntelang vergeblich bemühten: das Higgs-Boson. Erst im Sommer 2012 konnte es am weltgrößten Teilchenbeschleuniger des europäischen Kernforschungszentrums CERN bei Genf nachgewiesen werden.

Bis dahin galt das Higgs-Boson als das letzte unentdeckte Teilchen des Standardmodells der Elementarteilchenphysik, welches heute am besten das Zusammenspiel von Teilchen und physikalischen Wechselwirkungen beschreibt. Das Fehlen des Higgs-Bosons würde in diesem Modell jedoch eine spürbare Lücke hinterlassen. Denn die fundamentalen Teilchen der Materie (Quarks, Elektronen etc.) hätten dann keine Masse. Sie erhalten diese erst dadurch, dass sie mit einem kosmischen Feld in Wechselwirkung treten, deren Stärke wiederum den Betrag der Masse bestimmt. Und so wie etwa dem elektromagnetischen Feld als Quantenteilchen das Photon zugeordnet ist, wird jenem Feld, dem Higgs-Feld, das Higgs-Boson zugeordnet. Masse ist nach Higgs also keine fundamentale Eigenschaft von Teilchen, wie lange angenommen wurde, sondern ein Nebeneffekt materieller Wechselwirkungen.

Nur das elektrisch neutrale Higgs-Boson besitzt gewissermaßen von Hause aus eine Masse, von der man lange nur wusste, dass sie zwischen 114 und 185 Gigaelektronenvolt (GeV) liegt. Zum Vergleich: Ein Proton bringt es auf 1 GeV. Um das Higgs-Boson dingfest zu machen, wurde am CERN extra ein neuer gigantischer Teilchenbeschleuniger gebaut, der unterirdische Large Hadron Collider (LHC), in dem zwei gegenläufige Protonenstrahlen mit ungeheurer Energie aufeinander geschossen werden. Dabei, so hoffte man, sollten auch Higgs-Bosonen entstehen, die allerdings nach Sekundenbruchteilen wieder zerfallen. Was kein Malheur ist. Denn der Nachweis der entsprechenden Zerfallsprodukte liefert einen sicheren Rückschluss auf das gesuchte Boson.

Nach mehreren enttäuschenden Anläufen war es am 4. Juli 1912 soweit: Auf einer Pressekonferenz gaben CERN-Forscher bekannt, dass ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Nachweis des Higgs-Bosons gelungen sei, und dass dessen Masse rund 125 GeV betrage. An jenem Tag trafen Higgs und Englert, der einer jüdischen Familie entstammt und den Holocaust als »verstecktes Kind« in Belgien überlebt hatte, das erste Mal persönlich zusammen. Doch trotz aller Euphorie blieben auch leise Zweifel, ob die am CERN erhobenen experimentellen Daten tatsächlich hieb- und stichfest sind. Mit seiner jetzt getroffenen Entscheidung hat das Nobel-Komitee solche Zweifel offiziell für nichtig erklärt.

Die Tatsache, dass das Teilchen allein den Namen von Peter Higgs trägt, ist insofern erstaunlich, als 1964 gleich sechs Forscher ein ähnliches Modell zur Erklärung der Masse bei Elementarteilchen entwickelt hatten. Und die Ersten, die darüber berichteten, waren zwei Physiker der Freien Universität Brüssel: der jetzt geehrte François Englert und Robert Brout, der 2011 starb. Ihr Aufsatz wurde am 31. August 1964 im Band 13 der Fachzeitschrift »Physical Review Letters« veröffentlicht. Der maßgebliche Beitrag von Higgs erschien dagegen erst am 19. Oktober 1964 - ebenfalls im Band 13 der erwähnten Zeitschrift. Denn Higgs' erster Aufsatz zu diesem Thema, den er bei einem anderen Journal eingereicht hatte, wurde mit der Begründung abgelehnt, er sei »nicht von naheliegender Relevanz für die Physik«.

Dass man heute dennoch meist von Higgs-Mechanismus und Higgs-Boson spricht, ist womöglich einem Fehler des bekannten US-Physikers Steven Weinberg geschuldet. Als dieser den Aufsatz von Higgs an prominenter Stelle zitierte, ordnete er ihn versehentlich dem 12. Band von »Physical Review Letters« zu. Damit schien es so, als habe Higgs seine Ergebnisse deutlich vor den Brüsseler Forschern publiziert. Das ist zwar nicht korrekt. Da aber niemand den Fehler bemerkte, konnte er sich über die Jahrzehnte in der Fachliteratur verbreiten. Inzwischen jedoch gehen immer mehr Physiker dazu über, historisch treffend vom Brout-Englert-Higgs-Mechanismus zu sprechen.

Im Anschluss an Leon Lederman, den Physik-Nobelpreisträger des Jahres 1988, wird das Higgs-Boson in den Medien oft auch als »Gottesteilchen« bezeichnet. Warum, ist eigentlich unerfindlich - und dennoch erklärbar: 1993 wollte Lederman ein Buch schreiben mit dem Titel: »Das gottverdammte Teilchen - Wenn das Universum die Antwort ist, was ist die Frage?«. Seinem Verleger allerdings missfiel das Wort »gottverdammt«. Und deshalb änderte er den Titel kurzerhand um und machte aus dem »Goddamn Particle« das »God Particle«, das seitdem in der Literatur ein bizarres Eigenleben führt. Higgs ist darüber am wenigsten erfreut. Denn er nennt sich selbst einen Atheisten, der gleichwohl befürchtet, dass religiöse Menschen sich durch eine solche Wortwahl verletzt fühlen könnten.

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