Angehörige der Opfer von Katyn scheitern in Straßburg

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte stellt keine unmenschliche Behandlung der Hinterbliebenen durch Russland fest

  • Lesedauer: 3 Min.
Mehr als 70 Jahre nach der Erschießung Tausender Polen in Katyn und anderen Orten der Sowjetunion erlitten Hinterbliebene vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Niederlage.

Straßburg/Warschau/Moskau. Die Große Kammer des Straßburger Gerichts urteilte am Montag, Russland habe kein Grundrecht der Kläger verletzt. Die Hinterbliebenen der Opfer von Katyn hatten unter anderem geklagt, weil Russland ihnen keine Einsicht in die Ermittlungsakten gewährt. Außerdem warfen sie Moskau vor, keine wirksamen Ermittlungen zu den Massakern vorgenommen zu haben.

Die 17 Richter der Großen Kammer wiesen diese Vorwürfe zurück. Russland habe nicht gegen seine Pflichten gegenüber den Hinterbliebenen verstoßen, hieß es in dem Urteil. Von einer menschenunwürdigen Behandlung sei zu sprechen, wenn das Schicksal der Opfer ungewiss sei und die Behörden sich gegenüber den Auskunftsbitten der Angehörigen sehr gleichgültig zeigten, hieß es. Russland aber habe den Tod der Katyn-Opfer offiziell anerkannt. Gerügt wurde allerdings, dass Moskau dem Straßburger Gerichtshof nicht alle zur Prüfung des Falls notwendigen Unterlagen zu Verfügung gestellt habe. Dies sei ein Verstoß gegen Artikel 38 der Menschenrechtskonvention, der die Unterzeichnerstaaten zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof verpflichtet.

Im April und Mai 1940 waren mehr als 21 000 Polen von der sowjetischen Geheimpolizei erschossen und in Massengräber geworfen worden. Michail Gorbatschow gab 1990 als erster sowjetischer Staatschef zu, dass Josef Stalin den Befehl zur Ermordung polnischer Offiziere erteilt hatte, die 1939/40 in sowjetische Gefangenschaft geraten waren. Die Staatsduma hatte das Verbrechen von Katyn anerkannt, 1990 waren in Russland auch Ermittlungen eingeleitet worden, die aber wurden 2004 ohne Ergebnis zu den Akten gelegt.

Alle Anträge der Angehörigen, Einsicht in die Akten zu bekommen, wurden von Gerichten in Russland abgewiesen. Die Unterlagen wurden als streng geheim eingestuft. Deshalb weigerte sich Moskau auch, dem Straßburger Gerichtshof Einsicht in Ermittlungsunterlagen zu gewähren.

Gegen Russland geklagt hatten Familienangehörige von zwölf Opfern der Massaker. Sie verlangen die »ganze Wahrheit« und eine vollständige Aufklärung. Eine kleine Kammer des Straßburger Gerichts hatte den Klägern im April 2012 teilweise Recht gegeben. Sie rügte die Weigerung Russlands, den Angehörigen Akteneinsicht zu geben, als »unmenschlich«. Weil ihnen dieses Urteil nicht weit genug ging, hatten die Kläger Berufung beantragt.

»Wir sind ein bisschen enttäuscht«, sagte Polens stellvertretender Außenminister Artur Nowak-Far am Montag in einer ersten Reaktion auf die endgültige Entscheidung der Großen Kammer. Das Gericht habe nicht alle »historisch-moralischen Argumente« der Kläger berücksichtigt. Izabella Sariusz-Skapska, Vorsitzende des Verbands der Katyn-Familien, klang fast abgeklärt: »Seien wir ehrlich - wie waren die Chancen, dass jemand in Russland auf europäische Vorwürfe hört und die Ermittlungen wieder aufnimmt?« Es bleibe jedoch die Hoffnung, dass Russland irgendwann alle Namen der Opfer und die Orte ihrer Ermordung veröffentliche, »damit wir wissen, wo wir ihre Gräber finden«. Solange die Angehörigen nicht alle Dokumente erhalten, darunter die persönlichen Papiere der Opfer, »so lange ist das Verbrechen von Katyn nicht abgeschlossen«, betonte auch der ehemalige polnische Außenminister Adam Daniel Rotfeld im September während einer Konferenz polnischer und russischer Historiker. Die Offenlegung aller Umstände des Mordes an Vertretern der polnischen Elite sei die Voraussetzung für die Aussöhnung zwischen Polen und Russen.

Als »konsequent und logisch« bezeichnete dagegen der stellvertretende russische Justizminister Georgi Matjuschkin den Spruch der Straßburger Richter. Agenturen/nd

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