Todesangst im »Alten Mann«

Im niedersächsischen Lengede wird heute des Grubenunglücks vor 50 Jahren gedacht

  • Charlotte Morgenthal, Lengede
  • Lesedauer: 4 Min.
Adolf Herbst und seine Frau betrachten ein Foto. Es zeigt beide vor 50 Jahren - kurz nachdem das Wunder geschehen war: Adolf Herbst, schon für tot erklärt, wurde aus der Grube von Lengede gerettet.

Der ehemalige Elektromonteur Adolf Herbst reibt sich die Augen. Auch 50 Jahre nach der Katastrophe sind die Erinnerungen noch fest eingebrannt. Zwei Wochen lang war Herbst beim Grubenunglück im niedersächsischen Lengede in 60 Metern Tiefe eingeschlossen. »Es gibt nichts in meinem Leben, was ich so minutiös nacherzählen könnte«, sagt der 70-Jährige, der heute in Hannover lebt.

Grubenunglücke schockieren die Menschen immer wieder. Zuletzt starben drei Thüringer Bergleute in der Kali-Grube Unterbreizbach. In Lengede konnten Adolf Herbst und zehn weitere Bergleute wie durch ein Wunder nach 14 Tagen doch noch gerettet werden.

Der damals 20-jährige Herbst fährt am Morgen des 24. Oktober 1963 im Schacht Mathilde in das Eisenerz-Bergwerk bei Peine ein. »Mir war nicht wohl dabei«, beschreibt er die rasante Fahrt im Förderkorb auf 100 Meter Tiefe in die Finsternis. Am folgenden Tag wollte Herbst sich freinehmen, um seine Verlobung vorzubereiten. Dafür blieb er am 24. Oktober länger unter Tage.

Am Abend dann macht er sich wieder auf den Weg zum Förderkorb. »Da habe ich schon einen unglaublichen Druck auf den Ohren gespürt.« Etwa zur gleichen Zeit bricht unweit der Schachtanlage ein Klärteich ein. Rund 500 000 Kubikmeter Wasser stürzen in die Grube.

Insgesamt 129 Bergmänner sind bei der Arbeit, 79 können sich in den ersten Stunden retten. »Nie hätte ich gedacht, dass ich möglicherweise ertrinken könnte«, erinnert sich Herbst an die Momente, als er sich Bergmännern anschließt, die über die Förderbänder den Weg nach oben suchen. »Ich war wie ein Zuschauer.«

Im Lengeder Rathaus erinnert 50 Jahre später eine Ausstellung mit einem Modell an das Unglück. Werner Cleve vom Heimatverein zeigt, wo Herbst und 20 weitere Bergleute Zuflucht fanden: in einem stillgelegten, nicht gesicherten Stollen, einem sogenannten »Alten Mann«.

An anderer Stelle wurden in den nächsten Tagen zunächst sieben Bergleute gerettet, sagt Cleve und deutet mit einem Laserpointer auf den Nachbau des Geländes in Miniaturform. Mehr als eine Woche später beförderte eine Transportkapsel drei weitere Männer ans Tageslicht.

Die übrigen Vermissten, darunter der Elektriker Herbst, werden für tot erklärt. Mittlerweile hat das Grubenunglück mehr als 500 Journalisten aus aller Welt in den kleinen Ort gezogen. Darunter auch den 21-jährigen Volontär der »Alfelder Zeitung«, Gunter Hartung. »Ich war vor Entsetzen und vor Rührung zwischenzeitlich tränengeschüttelt«, erinnert er sich heute. Später hat er für den Norddeutschen Rundfunk eine Dokumentation über das Unglück gedreht.

Während in Lengede eine Trauerfeier für die angeblich Verstorbenen vorbereitet wird, kämpfen die 21 Männer im »Alten Mann« in völliger Dunkelheit ums Überleben. Die Hilfeschreie geben sie bald auf. Manche werden von herabfallenden Steinen erschlagen, sagt Herbst: »Einige, mit denen man vorher gesprochen hatte, waren plötzlich stumm.«

Neun Tage nach der Katastrophe werden die Sucharbeiten offiziell eingestellt. Doch einen Tag später können Bergleute die Grubenleitung überzeugen, eine Suchbohrung im Alten Mann zu starten. Der berechnete Bohrpunkt wird um zwei Meter verschoben, die Bohrung driftet um etwa zwei Meter ab. Sie trifft, wie durch Zufall, auf den Hohlraum, in den die Männer sich geflüchtet haben.

Fünf Minuten dauert es, dann können die Eingeschlossenen sich bemerkbar machen, erinnert sich Herbst: »Wie lange fünf Minuten sind, die über Leben und Tod entscheiden.« Ein Kumpel bekommt nur mit Mühe ein Taschenmesser aus seinem Stiefel heraus, schlägt es gegen das Rohr der Bohrstange. »Eine Minute später, und man hätte sie nicht mehr gehört«, sagt Cleve.

Nach vier weiteren Tagen hat die Bohrung zur Rettung der Männer Erfolg. Herbst wird als vierter in der Transportkapsel nach oben gebracht. Im Krankenwagen schließt er seine zukünftige Ehefrau in die Arme, ein Fotograf hat diesen Moment festgehalten. »Da fiel ein riesiger Brocken Ballast von mir ab«, sagt Herbst, während er gemeinsam mit seiner Frau das vergilbte Zeitungsbild betrachtet.

In Lengede wurde die Grube in den 1970er Jahren stillgelegt. An der Stelle, wo Herbst und zehn weitere Männer aus der Tiefe geholt wurden, erinnert eine Gedenkstätte an das Unglück und die zehn Männer, die dort in 60 Meter Tiefe starben. Insgesamt kamen bei dem Unglück 29 Bergleute ums Leben.

Herbst ist einer der wenigen Zeitzeugen, die noch am Leben sind. Jedes Jahr fährt er zum Gedenktag nach Lengede. Den Tag seiner Rettung, den 7. November, feiert er wie seinen zweiten Geburtstag. Von einem der Bohrmeister hat er sich einen Bohrkopf der Suchbohrung geben lassen und darin eine Kerze befestigt. Diese entzündet er einmal im Jahr.

Zwischen Herbst und dem Journalisten Hartung ist über die Jahre eine Freundschaft entstanden. Anfang der 1990er Jahre überlebte Hartung einen Flugzeugabsturz nur knapp. Im Krankenhaus erreichte ihn ein Brief des Elektromonteurs Herbst, erzählt der 71-Jährige bewegt und zitiert: »Jetzt, nachdem Sie selbst in Todesangst waren, werden Sie meine und die Lage der anderen Überlebenden von Lengede vielleicht besser verstehen.« epd/nd

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