Frankreichs Vergessene

Der politische Streit um Flüchtlinge aus Osteuropa birgt xenophobe Parolen, aber keine Lösungen

  • Robert Schmidt, Lyon
  • Lesedauer: 3 Min.
In der südfranzösischen Stadt Lyon vegetieren 300 Asylsuchende aus Albanien und Kosovo unter einer Brücke. Das Beispiel zeigt, dass die Republik mit der Umsetzung ihrer innersten Werte überfordert ist.

Es ist ein gespenstischer Anblick. Nur mit einer Taschenlampe kann man sie am Abend erkunden, diese Stadt in der Stadt aus Zelten, Müll - und Menschen. Kinder sitzen auf dem Boden und spielen mit Abfällen. »Frankreich hat uns vergessen«, schimpft ein 15-Jähriger aus Albanien. Seine Mutter habe Rheuma und Bluthochdruck. Ein Mann kommt aufgeregt angelaufen, ruft »Epidemie, Epidemie, Epidemie«.

Unvorstellbar, dass hier Menschen leben sollen. Unvorstellbar, dass im Jahr 2013 im Zentrum von Frankreichs drittgrößter Stadt Lyon 300 Flüchtlinge, darunter 98 Kinder, monatelang unter einem Autobahnzubringer schlafen. Ohne fließendes Wasser, ohne Toiletten und Duschen, ohne Licht. Die Menschen, überwiegend ganze Familien, stammen zum Großteil aus Albanien, einige kommen aus Kosovo, manche sind Roma. Alle redeten über sie, aber kaum einer mit ihnen, sagen sie selbst.

Schon seit Jahren zieht es Asylsuchende und andere Obdachlose zur Kitchener-Brücke und zum nahe gelegenen Bahnhof Perrache. Es ist ein komisches Gefühl, jeden Morgen an diesem Zeltlager vorbeizufahren. Vor zwei Jahren befand es sich ein wenig versteckt an einem Nebenausgang, wurde aufgelöst, dann ein Jahr später auf dem belebten Platz Carnot wiedererrichtet. Auch von dort vertrieb man sie. Lyon ist ein spezieller Fall, wie der Verein »Flüchtlingsforum« berichtet. Die Zahl der Asylsuchenden sei explodiert, wachse zehnmal schneller als im Rest des Landes. 4000 Anträge auf Asyl habe es im vorigen Jahr nach Schätzungen der Organisation im Regierungsbezirk Lyon gegeben.

Für die derzeit unter der Brücke vegetierenden Menschen scheint niemand einer Lösung zu haben. Ein Gericht hatte jüngst die »unverzügliche Räumung« des Lagers beschlossen. Der für Lyon zuständige Regierungsvertreter hatte daraufhin die Verlegung in die Lyoner Vorstadt Oullins erlassen. Anscheinend hatte er vergessen, vorher mit dem dortigen Bürgermeister zu sprechen. Dieser hat nun seinerseits Klage gegen die Verlegung des Camps eingereicht. Das vorgesehene Grundstück wolle die Stadt lieber für den Bau von Parkplätzen nutzen, sagte der Bürgermeister der Lokalpresse. Und überhaupt seien seine Bürger über diese Entscheidung »völlig aus dem Häuschen«. Der Ausgang ist offen.

Seit Jahren kritisieren die Vereinten Nationen, die EU und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Frankreich für sein massenhaftes Abschieben von Asylsuchenden, besonders von Roma. Mit zuwanderungsfeindlichen Parolen jedoch erhält die rechtsextreme Front National zurzeit Rekordumfragewerte. Auch der seiner Partei nach sozialistische Innenminister Manuel Valls, laut Umfragen derzeit Frankreichs beliebtester Politiker, hetzt seit Monaten gegen Roma. Monatelang hatten seine Kollegen von der Parti Socialiste Valls' Kurs mitgetragen, seine Tiraden über die »Nichtintegrierbaren« ebenso wie Äußerungen zu vermeintlichen »Bettel- und Prostitutionsnetzwerken«.

Mit einer Aktion hat er vor Kurzem allerdings massive Kritik innerhalb der Partei provoziert. Es war der Fall der 15-jährigen Leonarda, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das Mädchen, das in Frankreich zur Schule ging, war von Polizeikräften während eines Schulausflugs festgesetzt worden - um die »Familie gemeinsam abzuschieben«, wie es aus dem Innenministerium hieß.

Nur zur Erinnerung: In Frankreich leben zwischen 300 000 und 400 000 Roma. Fünf Prozent von ihnen, bis zu 20 000, hausen unter Brücken und in Zeltlagern. Doch das reicht anscheinend für plumpe Parolen und menschenunwürdige Maßnahmen. Darunter leiden nicht nur die Roma, sondern alle Asylsuchenden und letztlich auch die Republik selbst.

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