Agca und die »ganze Wahrheit«

Der Papst-Attentäter soll heute wieder ein freier Mann werden

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 4 Min.
Mehmet Ali Agca (48) soll heute aus türkischer Haft entlassen werden. Der Mann, der am 13. Mai 1981 auf dem Petersplatz in Rom Papst Johannes Paul II. niederschoss, kommt damit endgültig auf freien Fuß.
Am 27. Dezember 1983 besuchte Papst Johannes Paul II. die römische Strafvollzugsanstalt Rebibbia. Nach einer Rede vor den Häftlingen begab er sich in die Zelle jenes Mannes, dessen Weg sich mit dem des polnischen Pontifex so verhängnisvoll gekreuzt hatte. Zwanzig Minuten lang führte Karol Wojtyla unter Ausschluss jeglicher Zeugen ein Gespräch mit »seinem« Attentäter Ali Agca. »Was wir einander gesagt haben, bleibt ein Geheimnis zwischen mir und ihm«, beschied Johannes Paul die Journalisten. Ali Agca behauptete später, er habe dem Papst die »ganze Wahrheit« gesagt. Enthüllen werde er diese allerdings erst, wenn er wieder ein freier Mann sei. Heute soll der Attentäter ein freier Mann werden. Nach seiner Begnadigung in Italien im Jahr 2000 war er an die Türkei ausgeliefert worden, wo die Justiz bereits wegen eines 1979 verübten Mordes an einem linken Journalisten auf ihn wartete. Hinzu kam eine Verurteilung für einen ebenfalls über 20 Jahre zurückliegenden Raubüberfall. Mit seiner jetzt erfolgenden Freilassung wird eine Amnestie-Regelung umgesetzt. Obwohl der Rechtsterrorist zweifelsfrei die Schüsse abfeuerte, bleibt das Papst-Attentat eines der großen ungeklärten Verbrechen der Geschichte. Die Journalistin und Vatikan-Expertin Valeska von Roques nennt den Anschlag »die dreisteste aller "covert actions", die im Kalten Krieg von westlichen Kräften durchgezogen wurden. Mit diesem Anschlag auf den Papst, der als Teil der Planung den Bulgaren und dem KGB untergeschoben werden sollte, war beabsichtigt gewesen, die Sowjetunion als das "Reich des Bösen" aus dem Kreis der zivilisierten Staaten zu verbannen, die sich anbahnende Entspannung zu boykottieren und die labile Situation in Polen zu destabilisieren, wenn möglich bis hin zu einer Intervention der Sowjets«. Für von Roques liegt der Ursprung des Komplotts »in den USA, wenn auch nicht bei der CIA«. Pikanterweise gibt es auch eine Spur, die hinter die Mauern des Vatikans führt. Verbunden ist sie mit einem mystischen Ereignis vor fast 89 Jahren. Im Mai 1917 soll drei Hirtenkindern im portugiesischen Dorf Fatima (heute ein weltberühmter Wallfahrtsort) die Gottesmutter erschienen sein. Dabei habe die Jungfrau gegenüber Lucia (10), Francisco (9) und Jacinta (7) eine dreiteilige Botschaft verkündet. 1938 enthüllte die nunmehrige Nonne Lucia dos Santos die ersten beiden Teile der angeblichen Geheimbotschaft. Im ersten Teil geht es um eine Höllenvision, die später als Prophezeiung des Zweiten Weltkrieges interpretiert wurde. Im zweiten Teil ist vom Zorn der Madonna auf Russland die Rede, weil es vom Glauben abgefallen sei. Den dritten Teil der Offenbarung gab die Nonne nicht preis, schrieb ihn aber 1941 auf und ließ ihn dem Vatikan zukommen. Wer alles den Inhalt vor der offiziellen Verkündung im Jahr 2000 kannte, wird wohl nie zu klären sein. Was am 26. Juni 2000 vom Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger (jetzt Papst Benedikt XVI.), auf einer Pressekonferenz mitgeteilt wurde, klang wenig spektakulär. Es ging um Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen, die beim Besteigen eines Berges den Märtyrertod erleiden. Das Hinbiegen zu einer konkreten historischen Ankündigung wie bei den ersten beiden Teilen der Fatima-Botschaft schien schwierig. Wenn nicht im Jahr 1981 ein türkischer Terrorist auf Johannes Paul II. geschossen hätte. Denn in der der Nonne Lucia zugeschriebenen Vision ist die Rede von einem »Bischof, gekleidet in Weiß (von dem wir annahmen, es sei der Heilige Vater)«. Und dieser, so heißt es weiter, »wurde von einer Gruppe von Soldaten ermordet, die teils mit Feuerwaffen, teils mit Pfeilen auf ihn schossen«. Ali Agca als der - gescheiterte - Vollstrecker einer von Kreisen im Vatikan durchaus begrüßten Prophezeiung? Warum wählte er für den Anschlag ausgerechnet jenen Mittwoch (der allwöchentliche Audienztag des Papstes), an dem vor genau 64 Jahren erstmals Maria den Kindern in Fatima erschienen sein soll? Vor Gericht erklärte Agca: »Das Attentat auf den Papst ist mit dem dritten Geheimnis von Fatima verbunden.« Ein Geheimnis, das damals nur wenige kannten. Dieses Insistieren Agcas könnte aus heutiger Sicht Sinn machen. Unterstellt, man hätte ihm Teile der Lucia-Niederschrift vor dem Anschlag enthüllt, um ihn zu manipulieren. Der geltungssüchtige Türke, der schon einmal gedroht hatte, den Papst umzubringen, wäre genau der Richtige für eine solche »historische« Mission gewesen. Der Türke Oral Celik, der als eine Schlüsselfigur bei der Organisierung des Attentats gilt, behauptete 1994 in einem Verhör, Agca sei seinerzeit von zwei Kardinälen im Vatikan empfangen worden. Bei einem Besuch in Bulgarien im Mai 2002 versicherte Johannes Paul II., er habe »niemals an die so genannte bulgarische Spur geglaubt«. Er ist nun tot. Sein Attentäter lebt noch, kommt jetzt frei und könnte reden. Könnte.

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