- Politik
- In der DDR auf Eis gelegt und nun in der DDR-Bibliothek: »Vor den Vätern sterben die Söhne« von Thomas Brasch
Wege eines Manuskripts
Ein Buch, das nach seiner Drucklegung bei Rotbuch 1977 vielhundertfach den Schmuggelweg in DDR-Parkas fand. Nun ist es noch einmal aufgelegt worden in der «DDR-Bibliothek» bei Faber & Faber, einer Reihe, die Kanonisierungssignale der «bleibenden» DDR- Literatur zu setzen versucht. Die typographische Gestaltung des Bandes trägt ein übriges zur Musealisierung bei und scheint endgültig die Spuren der Aufregungen zu tilgen, die einst die Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Brasch-Manuskripts begleitet haben.
1975 legt Thomas Brasch dem Rostocker Hinstorff-Verlag ein Manuskript mit Prosatexten vor, einem Verlag, der auch nach dem frühen Tod von Kurt Batt sich bemüht, artifiziell erhebliche und politisch brisante Literatur herauszubringen. Hausautoren zu dieser Zeit sind u.a. Franz Fühmann, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Ulrich Plenzdorf. Im Verlag er kennt man das außerordentliche Talent des Autors. Geplant ist, den Band, der ur sprünglich den Titel «Eulenspiegel. Er Zählungen und anderes» trägt, 1977 zu veröffentlichen. Die Erzählstücke sind nicht nur hinsichtlich ihrer Sujets und Genre-Zugehörigkeit disparat, sondern auch verschiedenen Schaffensphasen zuzuordnen. Thomas Brasch überarbeitete, straffte die Geschichten, die Diktion wird konziser und härter, was sich schon in der Veränderung der Überschriften nieder schlägt: Die Erzählung «Der Dreher Jür gen Fastnacht» wird auf das symbolische «Fastnacht» verknappt. Der Bandtitel wird im Laufe des Arbeitsprozesses zunächst zu «Fastnacht», dann zu «Auf der Leinwand sind die Zwerge Riesen» verändert. Es schält sich eine streng-prismatische Komposition der Erzählstücke heraus, die ›zählreiche Spiegelungseffekte und verschiedenartige Brechungen des Grundthemas zeitigt: nach den Bedingungen und Verhinderungen von sinnstiftender Produktivität zu fragen.
Es sind nach Braschs eigenen Worten «Geschichten über Arbeitsprozesse». In der Marsyas-Parabel geht Brasch zurück zu den Ursprüngen der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaften, hier schon wird, mit Hölderlin gesprochen, «das ganze elende Menschenwerk von Staat, Ver fassung, Regierung, Gesetzgebung - bis auf die Haut entblößt». Dieses Hautabziehende wird von Brasch mit humaner Unbarmherzigkeit in jede seiner verstörten, gehetzten, scheiternden und doch nach Leben gierenden Figuren gelegt. Denn es sind Leute, so der Autor, «auf deren Rücken Geschichte gemacht wird, die Geschichte zu erleiden haben und die daran kaputt gehen». Braschs Figuren in ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Selbstbestimmtheit, Grenzüberschreitung, nach Verrücktheit: Sie werden an den Rand der Maschinerie gedrängt, die sie schließlich zerdrückt. Geschichten eines weitfliegenden Begehrens nach einem phantasievolhungrigen DDR-Lesepublikum zugänglich zu machen, wohl wissend, dass die westliche Drucklegung einer eingriffslosen Fassung den eigentlichen Skandal ideologiebestimmter Zensur potenzierte. Dem Autor werden 28 Änderungen angetragen, die erhebliche Eingriffe in das Originalmanuskript bedeuten würden. Als unüberwindlich erweisen sich die Konflikte dort, wo er sich in Tabuzonen vorwagte: So moniert der Verlag, dass eine Hauptfigur «von der Mauer und einem gesetzwidrigen Anrennen gegen sie nicht wegkommt» und wendet sich gegen das «klitternde Zitieren von Marx und Engels».
Brasch: «Ich habe gesagt, dieses kann ich nicht machen; ...selbst wenn sie mit einigen Vorschlägen sogar recht hatten, die nicht ideologisch-politische waren, sondern formale, wo ich, in dem Bedürfnis zuzuschlagen, einfach schlechte Prosa geschrieben habe. In dieser Situation war es so, dass ich sagte, ich bin jetzt 31 Jahre und habe keine Lust, immer als pubertierender Oppositioneller, der immer dem Papa die Zunge rausstreckt, in die Geschichte einzugehen; ich drucke dieses Buch jetzt. Und zwar nicht als Wider standstat, sondern, um mich der Kritik der Öffentlichkeit auszusetzen.» Zu diesem Zeitpunkt gibt es bereits Kontakte zum Westberliner Rotbuch Verlag. Dieser aus dem Geist der 68er Bewegung gegründete linke Kollektiv-Verlag engagiert sich für Autoren, die in der DDR keine oder wenig Chancen auf Veröffentlichung haben, so für Paul Gratzik oder Stefan Schütz. Vor allem aber betreut er seit 1973 die Werkausgabe Heiner Müllers. Im Frühjahr 1976 macht Heiner Müller auf Thomas Brasch aufmerksam. Im Juni gibt es erste Gespräche zwischen dem damaligen Lektor des Rotbuch Verlages F C. Delhis und Thomas Brasch. Es wird eine Veröffentlichung des Manuskripts für das Frühjahr 1977 avisiert - auch in dem Fall, dass das Ostberliner Büro für Urheber rechte seine Zustimmung verweigert. Genau das tritt ein.
In diesen Wochen verschärft sich die innenpolitische Situation in der DDR. Am 16. November wird Wolf Biermann ausgebürgert, am 17 November protestieren zwölf Autoren gegen seine Ausbürgerung. Zu den ersten Schriftstellern, die sich dem Protest anschließen, gehört Thomas Brasch. An ihm wird prompt als einem der ersten exemplifiziert, was fürderhin gängige Praxis der verunsicherten Staatsmacht werden sollte. Er wird vor die Alternativen gestellt, das an den Rotbuch Verlag gegebene Manuskript zurückzuziehen, andernfalls juristische Konsequenzen gewärtigen zu müssen oder dorthin zu gehen, wo das Buch gedruckt wird. Im Dezember werden Thomas Brasch und Katharina Thalbach die «einmalige Ausreise zwecks Übersiedlung aus der DDR» gestattet. Der Rotbuch Verlag beschließt, die Veröffentlichung vorzuziehen; das Buch erscheint Januar 1977 in einer Start-Auflage von 10000 Exemplaren und erfährt ein enthusiastisches Echo. Dabei muss Thomas Brasch sich Vereinnahmungen erwehren. Denn vergleichbar Uwe Johnson lässt er sich nicht für einen blindwütigen Antikommunismus einspannen, beharrt auf eigener Erfahrung: «Für mich war der Wechsel aus dem Leipziger Hörsaal in eine Berliner Werkhalle ein wesentlich schärferer Bruch als die Übersiedlung aus der intellektuellen Szene der einen Hälfte Berlins in die andere Hälfte der Stadt.»
Das Buch erfährt in den siebziger/achtziger Jahren mehrere Auflagen und avanciert in der DDR zu jenen Konterbanden, die haltungsprägend wurden zumindest für einen Teil der Generation, die in den Sozialismus hineingeboren worden war. In die Verstörung nach der Biermann- Ausbürgerung hinein wirkt der Erzählungsband in mehrfacher Hinsicht aufstörend: thematisch, gestisch, strukturell. Heiner Müller erkannte die Bedeutung Thomas Braschs, als er herausstellte, «in der DDR wird nach dem Erscheinen seiner Bücher >Vor den Vätern sterben die Söhne< und >Kargo< niemand mehr so schreiben können, als ob er sie nicht geschrieben hätte. Wie es ist, bleibt es nicht.» Von Thomas Brasch wird freilich zehn Jahre lang keine Zeile in der DDR gedruckt, während in kurzer Folge Bände mit Stücken, Gedichten, Inszenierungstagebüchern von ihm bei Suhrkamp er scheinen.
Erst Ende der achtziger Jahre bemühte man sich auch in der DDR wieder um den Autor. 1989 entschließt sich der Hinstorff- Verlag, das 1976 abgelehnte Manuskript ohne Änderungen zu veröffentlichen. In einem Verlagsgutachten vom 25 April 1989 wird «der scharfblickende, rigorose Gesellschaftskritiker» gelobt und der «längst anachronistische Riss zwischen Autor und Hinstorff-Verlag als ein lang bohrendes Ungenügen» bezeichnet. Kurz vor dem Harakiri des DDR-Staates wird Thomas Braschs Buch 1990 endlich im Hinstorff-Verlag zu Rostock erscheinen.
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